Alma Kosarić
"Ich bin ohne Feindbilder aufgewachsen"
Alma Kosarić steht kurz vor ihrem Staatsexamen. Bald wird sie Englisch und Spanisch unterrichten. Alma war vier, als ihre Eltern sie mitnahmen, um vor der ZETRA-Halle das Friedenskonzert zu erleben. Aber sie erinnert sich noch gut - auch an die Zeit danach.
Ich war erst vier Jahre alt, als das Konzert in der Zetra stattfand. Aber ich habe eine eigene Erinnerung an den 28. Juli 1991. Wir haben auf der Tepebasina gewohnt, keine zehn Minuten von der Halle entfernt. Wir saßen vor dem Fernseher, und ich weiß noch, dass meine Mutter unbedingt zum Konzert wollte. Sie konnte es kaum erwarten, dass ich endlich ins Bett gehen würde. Doch mein Vater wollte mich nicht alleine lassen. Also beschlossen sie, mich einfach mitzunehmen. Wir mussten nur die Treppe runter, nach links, schon waren wir auf dem Platz vor der Halle. Überall waren glückliche Menschen, überall wurde Live-Musik gespielt.
Wir kamen nicht mehr in die Halle, wir haben uns in ein Café gesetzt, und ich erinnere mich noch, dass ich auf einem roten Stuhl getanzt habe. Das hat sich irgendwie in mein Gedächtnis eingebrannt. Als ich vor ein paar Tagen vom Zetra Project hörte, fragte ich meine Mutter, ob es dieses Friedenskonzert war, an das ich mich erinnere. Und sie sagte: „Ja“. Ich wollte aber nicht mehr von ihr über diesen Tag erfahren, ich wollte meine Erinnerung nicht verfälschen und erst meine eigene Geschichte erzählen. Dazu habe ich mich entschlossen, nachdem ich auf Facebook und Spiegel Online so viele hasserfüllte Kommentare lesen musste von Menschen, die noch jünger als ich und in Deutschland geboren sind und die den Krieg gar nicht erlebt haben.
Ich habe den Krieg erlebt, denn wir sind geblieben. Bis zwei Monate vor Kriegsende. Meine Mutter war Sozialarbeiterin, sie hat geholfen, wo sie nur konnte. Und vor allem haben wir geteilt. Einmal brachte mein Vater eine große Tüte frisches Obst mit nach Hause, sie schälte und wusch sogleich die Pflaumen, Pfirsiche und Trauben und lud die Kinder der ganzen Straße ein.

Meine Mutter hat es geschafft, mich ohne Feindbilder aufwachsen zu lassen. Sie hat den Krieg von mir ferngehalten, so fern, dass ich erst im Nachhinein wirklich verstanden habe, was Krieg ist. Natürlich habe ich mitbekommen, dass unsere Schule geschlossen wurde und wir auf einmal in den Wohnzimmern der Nachbarschaft Unterricht hatten. Dass man aufpassen musste, nicht ins Visier der Scharfschützen zu geraten. Dass unter den Decken auf der Straße Leichen lagen. Dass der Vater einer Nachbarin auf eine Mine getreten war. Aber es hieß nur, er sei auf eine Mine getreten, nicht: Es war eine serbische Mine.
In unserer Straße spielte es während der Belagerung keine Rolle, ob jemand Muslim, orthodox oder sonstwas war. Meine Mutter hat uns vorgelebt, dass wir alle gleich sind. Diese Jahre im Krieg haben mich jedenfalls zu dem Menschen gemacht, der ich bin. Ich habe wegen meiner Mutter auf jeden Fall einen Helferkomplex, ich würde auch meine letztes Stück Brot noch hergeben. Man sagt ja auch: It makes you or it breaks you. Ich jedenfalls glaube an den Frieden, ich verkörpere ihn.
Plötzlich war da ein Mann, der uns half, nach Österreich zu kommen. Ich saß hinten mit meiner Mutter, er hatte Erdbeeren im Auto, die schenkte er mir.
Es hat mich deshalb ziemlich getroffen, als die Eltern meiner Freundin ihr den Kontakt zu mir verboten, nur weil sie Serbin war, und ich nicht. Und das war 2006, als ich 19 war und seit Jahren schon in Deutschland lebte. Seither sage ich nur noch: Ich bin Jugoslawin.
Wir haben Sarajevo jedenfalls erst im Sommer 1995, kurz vor Kriegsende, verlassen. Meine Mutter sagte damals, wenn der Krieg zu Ende sei, seien die Menschen wieder sich selbst überlassen, dann wäre es vorbei mit dem Miteinander.
Wir sind durch den Tunnel gegangen, jenen Versorgungsschacht, durch den Sarajevo vier Jahre lang am Leben gehalten wurde. Ich weiß noch, dass ich gerade so stehen konnte, den modrig-lehmigen Geruch habe ich bis heute in der Nase. Ich mag deshalb auch nicht besonders gerne in alte Keller hinabsteigen. Auf dem Igman hat es dann geregnet, unser Bus passierte den Kamm ohne Licht. Wir hatten Schleuser - so würde man wohl heute sagen -, die wir bestochen hatten. Die waren sehr nervös. Irgendwie sind wir heil nach Kroatien gekommen. Wir wollten zu einem Onkel weiter, der in Landsberg am Lech in Bayern wohnte.
An der Grenze zu Slowenien flogen wir mit unseren Papieren auf und kamen nicht weiter. Deshalb wurden wir aus dem Bus geworfen. Wir saßen also zwischen den Grenzen fest. Mein Vater ging dann irgendwann zu einem Mann und fragte ihn, ob er eventuell nach Ljubljana fahren würde und uns mitnehmen könne. Es war zwar nicht die Richtung, in die er musste, aber er brachte uns dennoch nach Kranj, zum nächsten Zugbahnhof.
Während der Autofahrt saß ich hinten mit meiner Mutter, er hatte Erdbeeren im Auto, die er mir schenkte und Plastikobst, das er mir zum Spielen gab. Meinen Eltern schenkte er Geld. Es war wie in einem Film, er hatte einen Koffer im Kofferraum, der war voll mit Scheinen. Ein Bündel davon gab er meinen Eltern. Sonst weiß ich nicht viel über ihn. Er war damals vielleicht zwischen 30 und 40. Und ich glaube, er war Slowene, denn er erwähnte, dass er eine Firma in Slowenien habe. Mit dem Geld, das er meinen Eltern gab, konnten wir unsere Papiere und das Visum bezahlen. Er hat geweint als er uns verabschiedet hat.
Ich habe das Gefühl, dass ich seither das Gute anzuziehen. Und dass ich diesen Menschen gerne wieder sehen möchte. Ich weiß, dass das unwahrscheinlich ist. Aber ich habe ein kurzes Video von mir aufgenommen, in dem ich euch von diesem Mann erzähle. Ich würde mich freuen, wenn er davon erfährt, dass ich mich immer noch an ihn erinnere, dass er Teil meiner Geschichte geworden ist. Einen Versuch wäre es wert.