Daria Lazetić-Milinković

„Egal, wo Du nach dem Krieg hinkommst, plötzlich gibt es nur noch uns und die anderen“

Bereits 1991 merkte Daria, dass irgendjemand versuchte, sie und ihre Freunde auseinander zu treiben. Genau deshalb besuchte die damals 15-Jährige mit mehr als 20 Menschen das Friedenskonzert. Sie alle wollten ihr gemeinsames Leben schützen. Kurze Zeit später verließ Daria mit ihrer Familie Sarajevo, um ein Wochenende in Pale zu verbringen. Daria wusste nicht, dass sie nach diesem Ausflug ihre Heimatstadt für eine lange Zeit nicht mehr wiedersehen würde.

Plötzlich wurde es wichtig, Symbole zu tragen. Die einen ein Kreuz, die anderen einen Mond oder einen Stern. Ich hatte das Gefühl, es käme aus dem Nichts. Als habe es uns jemand einfach auferlegt. Dabei war damals die ganze Straße miteinander befreundet in Sarajevo. Jeder kannte jeden. Das einzige, das uns Kindern und Jugendlichen wichtig war, war unsere Freundschaft. Es gab keine Unterschiede zwischen uns. Höchstens am Namen konnte man erkennen, wer was war. Oder daran, dass die einen Baklava gemacht und die anderen Eier gefärbt haben. Trotzdem haben diejenigen mit ihrer Baklava, die Freunde mit den gefärbten Eiern besucht und umgekehrt. Ich finde es blöd, das erwähnen zu müssen, aber das war die Normalität.

Daria bei ihrem achten Geburtstag mit Freunden und Familie

Auf einmal versuchten sie uns jedoch mit irgendwelchen Flaggen auseinander zu treiben. SDA, SDS und alle anderen tauchten auf – ich war damals 15 und hatte keine Ahnung, worum es geht. Trotzdem merkte ich, dass 1991 schon etwas nicht mehr in Ordnung war. Viele von uns hatten ältere Brüder, die zum Wehrdienst mussten zu dieser Zeit. Manche von ihnen wurden nach Slowenien und Kroatien versetzt. Wochenlang hörte man nichts von Ihnen, viele Eltern machten sich große Sorgen um ihre Kinder. Denn das waren sie: Kinder. Gerade einmal 18, 19 Jahre alt. Und nun sollten sie in den Krieg ziehen?

Mein Bruder drückte sich vor dem Wehrdienst, weil er es irgendwie schaffte, sich rechtzeitig an der Universität einzuschreiben. Doch Freunde von ihm waren bereits eingezogen worden. Manche flohen aus den Camps und flüchteten durch die Wälder zurück nach Sarajevo, teilweise zu Fuß. Ich wusste also, dass etwas Schlechtes begonnen hatte. Die ganze Zeit fragte ich mich: Wieso stört sich jemand an unseren Freundschaften? Also mussten wir zu dem Friedenskonzert gehen.

Schließlich ging es darum, unser gemeinsames Leben, unsere Freundschaften gegen diese negativen Kräfte zu schützen.

Ich bin damals mit meinen ganzen Freunden aus der Straße zu dem Konzert gegangen. Wir waren immer als große Gruppe unterwegs – 20 bis 25 junge Menschen. Von Alipašino polje aus – wo wir alle wohnten – ging es mit der Tram zum Konzert. Singend sind wir eingestiegen und wieder ausgestiegen. Wir alle hatten ein gemeinsames Ziel – und ich erinnere mich gut, dass mich dieses Gefühl sehr glücklich gemacht hat. Von der Bühne aus betrachtet, standen wir auf der linken Tribüne. Wir alle hatten jugoslawische Nationalflaggen dabei und hielten sie die ganze Zeit in die Luft. Es war ein unglaubliches Gefühl. Für mich fühlte es sich an, als seien alle Menschen in der Zetra-Halle eins. Wir alle taten etwas Gutes für unser Land und für unsere Stadt Sarajevo.

Nach dem Konzert war vor dem Konzert: Die Straßen überfüllt, überall Musik, alles voller Menschen. Wir warteten ewig auf eine Tram. Ein Freund von mir kaufte an einem Kiosk gerade einen Kaugummi als sie endlich kam. Doch er hatte noch nicht bezahlt. Wir riefen nach ihm, weil wir die Tram nicht verpassen wollten und er sprang im letzten Moment mit dem Kaugummi noch auf. Die Verkäuferin am Kiosk schrie ihm noch hinterher, er solle zurückkommen. Er antwortete darauf: „Yutel bezahlt Dir den Kaugummi!“ Und sie lachte.

Daria mit einer Freundin in Sarajevo

Mein Bruder arbeitete 1992 bereits neben dem Studium als Journalist. Eines Abends kam er nach Hause und sagte, es sei besser, wir würden Sarajevo über das Wochenende verlassen. Er wusste, irgendetwas würde in Sarajevo passieren. Wir hatten ein Wochenendhaus in Pale, in den Bergen, wo wir häufig hinfuhren. Doch als mein Bruder das sagte, schaute ihn meine Mutter nur fassungslos an und fragte: „Was ist denn los, wie kommst Du darauf?“ Meine Eltern vertrauten ihm jedoch und wir beschlossen wegzufahren.

Normalerweise fuhren wir immer samstags nach Pale. Doch an diesem 3. April 1992 sollte es schon Freitag nach der Arbeit losgehen. Meine Eltern wollten mich von der Schule abholen. Doch als sie an der Schule ankamen, war ich bereits auf dem Heimweg. Wir hatten uns verpasst. Als ich zu Hause war und sah, dass niemand anwesend war, freute ich mich, wie sich eben jeder Jugendliche freut, wenn er ein Wochenende allein zuhause verbringen darf. Ich dachte: Juhu, sie sind ohne mich gefahren, ich organisiere eine Party. Doch leider wurde aus meinen Plänen nichts, da sie kurz danach an der Tür standen und mich abholten.

Wir fuhren mit so vielen Sachen nach Pale, wie man sie eben für ein Wochenende braucht. Ein bisschen Kleidung, Nahrung für drei Tage, das war’s. Am Montag Früh machten wir uns also wieder auf den Weg zurück nach Sarajevo. Meine Eltern mussten schließlich zur Arbeit, ich zur Schule. Kurz vor dem Eingang zur Stadt standen plötzlich Soldaten, die eine Barrikade errichtet hatten.

Sie hielten uns an und sagten: „Der Krieg hat angefangen. Ihr könnt nicht nach Sarajevo. Geht zurück!“

Wir verstanden die Welt nicht mehr. Meine Eltern nahmen diese Aussagen nicht ganz ernst und versuchten einen anderen Weg, um nach Hause zu kommen. Doch auch dort standen Soldaten, die sagten: „Habt ihr denn nicht mitbekommen, dass der Krieg angefangen hat? Geht zurück nach Pale!“ Ich weiß noch, wie meine Mutter zu ihnen sagte: „Ich muss zur Arbeit. Ich muss in mein Haus. Lasst uns durch!“ Doch es ging nicht. Ich dachte nur: Wohin soll ich denn zurückgehen? Mein ganzes Leben ist in Sarajevo. Wir fuhren über’s Wochenende nach Pale. Plötzlich kamen wir dort nicht mehr weg. Wir waren über Nacht zu Flüchtlingen geworden – ohne es zu wissen. Ich sollte Sarajevo für lange Zeit nicht mehr wiedersehen. Letztendlich blieb meine Familie 20 Jahre in Pale. Anfangs packten wir noch jeden zweiten Tag unsere Taschen und fuhren erneut los. Doch es war immer erfolglos.

Daria mit Freunden in Pale 1995

1996, kurz nachdem der Friedensvertrag von Dayton unterschrieben wurde, reiste ich mit einer Freundin gemeinsam aus Belgrad nach Sarajevo. Das erste Mal nach mehr als vier Jahren. Wir hatten das Auto etwas weiter außerhalb der Stadt stehengelassen und uns zu Fuß auf den Weg gemacht. Ein Taxifahrer sammelte uns unterwegs ein, weil er es für zu gefährlich hielt, dass wir einfach so durch die Stadt liefen. Er brachte uns nach Alipašino polje, wo auch meine Freundin gelebt hatte vor dem Krieg. Ihre Mutter war die ganze Zeit über dort geblieben und meine Freundin war alleine geflüchtet. Die beiden hatten sich seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Als ihre Mutter die Türe öffnete und sie sah, fiel sie in Ohnmacht.

Sarajevos Straßen waren komplett leer. Nirgendwo ein Mensch, so gut wie keine Autos, es war wie eine Geisterstadt. Manche Straßenzüge erkannte man gar nicht mehr wieder, weil sie so zerstört waren. Angst spürte ich jedoch keine. Mich schmerzte nur der Anblick Sarajevos. Irgendwie schaffte ich es, Drina-Zigaretten und Bier aufzutreiben. Damit fuhr ich anschließend nach Pale zu meinen Eltern. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt in Belgrad gelebt. Sie wussten also weder, dass ich in Sarajevo war, noch dass ich sie besuchen würde. Als ich die Sachen vor ihren Augen auspackte, konnten sie nicht glauben, dass ich tatsächlich in Sarajevo gewesen war.

Wir haben ein so einfaches, sorgloses und schönes Leben geführt in unserer Kindheit und Jugend. So hätte es bleiben sollen, so hätten wir weiterhin aufwachsen sollen. Stattdessen wurde unser Leben zerstört. Wir Kinder wollten ganz sicher nicht, dass wir auseinander getrieben werden. Das haben andere für uns entschieden. Und heute teilen sie sich alle auf in Menschen, die in der Föderation leben oder diejenigen, die in der Republika Srpska leben. Oder in Zagreb, in Ljubljana oder Belgrad. Die einen sagen Istorija zu Geschichte und die anderen Historija. Wir teilen uns so auf, aber aufgewachsen sind wir gemeinsam. Wir haben dieselbe Geschichte, dieselbe Sprache gelernt und dieselbe Musik gehört.

Daria heute

Sarajevo als Stadt ist komplett in mir. Aber es schmerzt mich, dass ich nicht mehr in dem Sarajevo lebe, das ich kannte. Egal, wo du nach dem Krieg hinkommst, plötzlich gibt es nur noch uns und die anderen. Heute ist es, als würde ich nicht mehr in diese Stadt gehören. Ich bin viel gereist und habe viel gesehen, doch wenn ich es mir aussuchen könnte, wo ich leben möchte, dann wäre es das Jugoslawien von damals. Ich mag Kroatien genauso gern wie Bosnien oder Serbien. Ich liebe unsere Berge, unser Meer, unsere Menschen, dieses gesamte damalige Land.

Auch meiner Tochter versuche ich so viel wie möglich von all diesen Ländern zu zeigen. Denn, wenn ich sehe, wie unsere Kinder heute - aufgeteilt nach Glauben - in der Schule unterrichtet werden und unterschiedliche Geschichten lernen, bekomme ich Gänsehaut. Niemand hat früher danach gefragt, woher die Großeltern eigentlich stammen. Und ich möchte auch heute nicht danach fragen. Meine Tochter weiß, wann Bayram gefeiert wird und wann Weihnachten. Wir feiern mit all unseren Freunden und Familienmitgliedern alle Feste. So wie früher.