Maja Jusufbegović

„Wieso hat uns niemand gehört?“

Maja Jusufbegović war 1991 erst 13 Jahre alt, aber sie überredete ihre Eltern, sie mit dem Bus ins 200 Kilometer entfernte Sarajevo zum Friedenskonzert in der ZETRA-Halle fahren zu lassen. Alle, die damals mit ihr in diesen Bussen saßen, wussten: Die Lage ist ernst, das ist kein Spielchen mehr.

Wir wohnten damals in Derventa im Norden Bosniens, eine Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern. Am 28. Juli 1991 hatte sich die ganze Stadt in der Nähe unseres Wohnhauses versammelt, um in einen der Busse zu gelangen, die nach Sarajevo zum Friedenskonzert fuhren. Die ersten waren schon abgefahren, als ich noch immer versuchte, meine Eltern zu überreden, mich gehen zu lassen. Sie machten sich große Sorgen um mich – aus heutiger Sicht verstehe ich sie gut. Schließlich war ich gerade einmal 13 Jahre alt und wollte zu einem Konzert, das 200 km weit weg stattfand. Ich hatte bereits alle Argumente vorgebracht, die ich mir zuvor zurecht gelegt hatte, und wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Aber ich wusste, dass ich unbedingt nach Sarajevo fahren musste. Ich musste einfach Teil des Ganzen sein. Je mehr Leute wir sind, desto besser, dachte ich.

Eine Hand hatte mein Vater immer in seiner Hosentasche. Egal, ob er lief oder stand. Immer in der Tasche, in der auch sein Geld drin war. Er schaute mich lange an, zog etwas Geld aus der Hosentasche, drückte es mir in die Hand und sagte: „Das hier ist für die Ćevapčići in Sarajevo.“ In allerletzter Sekunde sprang ich noch in den allerletzten Bus. Die Stadt hatte die Überfahrt für uns alle organisiert. Die Stimmung im Bus erinnerte mich an einen Ausflug mit Freunden. Wir sangen, lachten und freuten uns auf das Konzert.

Majas Vater mit seiner Schwester

Ich gehöre einer sehr gut informierten Generation an. In der Schule lernten wir alles Mögliche – die Welt war uns nicht fremd, im Gegenteil, wir fühlten uns als Weltbürger. Zudem war es Usus, sich abends um 22 Uhr gemeinsam mit der Familie vor dem Fernseher zu versammeln und „Yutel“ zu schauen. Wir waren sehr aufgeklärt. Deshalb wussten wir alle, die wir damals in den Bussen saßen, dass das alles kein Spielchen mehr war. Derventa liegt nahe der kroatischen Grenze, der Krieg in Slowenien und Kroatien hatte zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen.

Wir ahnten, dass die Lage ernst war. Wir wussten es, auch wenn wir es nicht glauben wollten.

Stattdessen waren wir voller Hoffnung und Motivation, dass wir mit diesem Konzert ein Zeichen setzen würden. Alle 20.000 Menschen in der Halle waren davon überzeugt. Ich weiß noch, dass es am Tag des Konzertes wie aus Eimern gegossen hatte. Es war Hochsommer, doch es fühlte sich an wie November. Ich war beeindruckt davon, dass trotz des Wetters so viele Menschen kamen. Ich denke, dieser Abend war der letzte Versuch, das, was von Jugoslawien noch übrig war, zu retten.

Die Erzählungen von damals haben nichts mit einer Fata Morgana zu tun, auch wenn sie nach diesem brutalen Krieg heute danach klingen mögen. Diese Einigkeit, diese positive Energie, die die Menschen in Sarajevo versprühten, war einfach unglaublich. Man kann das eigentlich nicht beschreiben. Ich wünsche jedem Menschen, so etwas ein Mal zu erleben.

Maja, rechts im Bild, als junge Pionierin im ehemaligen Jugoslawien

Da das Konzert drei Stunden nach hinten verlegt wurde, konnte ich nicht bis zum Ende bleiben, sondern musste rechtzeitig den Bus nach Hause erwischen. Trotzdem war ich einfach nur glücklich. Ich fühlte mich, als hätte ich einen bedeutsamen Beitrag zum Frieden geleistet. Als der Krieg trotzdem auch bald Bosnien erreichte, fragte ich mich die ganze Zeit: Wieso hat uns niemand gehört? Wie konnte es sein, dass eine solche Masse an Menschen überhört wurde? Ich verstehe bis heute nicht, wie wir es zulassen konnten, dass wir auseinandergetrieben werden. Die Menschen, die ich vor dem Krieg mochte, mag ich auch heute noch. Daran kann auch ein Krieg nichts ändern.

Maja als Baby im Arm ihrer Mutter

Am 28.07.2013 war ich das letzte Mal in Sarajevo. An dieses besondere Datum muss mich keiner erinnern, das habe ich abgespeichert und werde es niemals vergessen. Ein paar Jahre nach dem Konzert fragte mich mein Vater, was eigentlich gewesen wäre, hätte er mich nicht gehen lassen. Ich glaube, ich hätte es ihm niemals verzeihen können.