Marinela Domančić
„Wir kamen mit guten Absichten, ohne Angst und ohne Sorge“
Marinela Domančić ist seit bald 25 Jahren auf keiner Demonstration mehr gewesen, weil für sie während der letzten Demo der Bosnienkrieg begann. Am 6. April 1992 gingen in Sarajevo hunderttausend Menschen auf die Straße, um für den Frieden zu protestieren. Sie wurden beschossen, Menschen wurden verletzt und starben. Damals war Marinela Lehrerin, und auf der Friedensdemonstration traf sie auf einen Schüler, den sie versuchte, sicher nach Hause zu bringen.
Vielleicht ahnte ich früher als andere in Bosnien, dass es einen Krieg geben könnte, denn ich habe sehr gute Freunde in Kroatien, in Vukovar. Als es dort zum Krieg kam, gingen die Menschen in Sarajevo damit um, als würde es sich um einen Krieg in Burundi handeln: alles schlimm und schrecklich, aber sehr weit weg von uns. Mein damaliger Freund lebte in Vukovar, er verlor seinen Bruder. Das ging mir sehr nah. Auf all die Friedensdemonstrationen, die es in Sarajevo gab, ging ich daher schon von Beginn an.
Auf dem ZETRA-Konzert „Yutel für Frieden“ war ich leider nicht, weil ich krank war. Ich sah es mir aber komplett im Fernsehen an. Alle meine Freunde gingen hin. Meine Lieblingsband Ekatarina Velika spielte auch. Ich bin sehr traurig, dass ich nicht dort war, denn für mich war es die letzte Gelegenheit, EKV live zu erleben. Heute sind sie ja nicht mehr am Leben.
Auch wenn ich sage, dass ich vielleicht früher als andere mit einem Krieg rechnete, muss ich doch ehrlich zugeben, dass auch ich mir nicht vorstellen konnte, was in Sarajevo geschehen würde. Im Nachhinein muss ich sagen: Wir waren alle verdammt naiv. All unsere Kraft, unseren Mut und unseren Verstand mobilisierten wir, und am Ende setzte sich dann doch ein krankes Hirn durch.
Die definitiv letzte Demonstration meines Lebens
Der Parlamentsplatz ist der Ort in Sarajevo, auf dem die letzte große Friedensdemonstration stattgefunden hat. Das war am 6. April 1992. Menschen aus ganz Bosnien-Herzegowina waren gekommen, Frauen, Männer und Kinder aus allen Teilen des Landes, hunderttausend Menschen ungefähr. Es gab eine Bühne, auf der Reden gehalten wurden. Am stärksten in Erinnerung geblieben ist mir die Rede von Rade Šerbedžija, der dabei seine Tochter im Arm hielt, ein Baby, wahrscheinlich die jüngste Demonstrantin.
Ich war damals Lehrerin auf einem Gymnasium und traf zufällig auf einen Schüler, er hieß Sanjin Hadžiomerović: „Guten Tag, Frau Lehrerin.“ „Hallo, was machst Du denn hier?“ Während wir uns unterhielten, achtete ich nicht mehr auf das, was um uns herum geschah - und plötzlich wurde geschossen. Wir wussten weder, wer schoss, noch woher die Schüsse kamen, wir hörten nur die Kugeln um uns herum pfeifen. Menschen fielen auf die Straße. Ich verlor meine Freunde aus den Augen, und so blieb ich mit meinem Schüler zusammen, ein Kind von 16, 17 Jahren, das völlig durcheinander war. Sanjin lebte nur wenige Häuser entfernt hinter der Kirche, doch er konnte nicht nach Hause. Wir zitterten vor Angst und wussten nicht, was los ist. Ich blieb bei ihm.

So endete für mich diese Friedensdemonstration. Wir kamen mit guten Absichten, ohne Angst und ohne Sorge, dass uns etwas geschehen könnte, und dann erlebten wir so etwas. Es gab Verletzte und Tote. Zwei Frauen wurden von Scharfschützen auf der Vrbanja-Brücke erschossen, Suada und Olga, heute ist die Brücke nach ihnen benannt. Davon wussten wir in dem Moment aber noch nichts.
So verwandelte sich diese Demonstration für den Frieden in etwas, das für uns in Sarajevo den Beginn des Krieges bedeutet.
Eine solche Angst und Sorge mag ich nie wieder erfahren müssen
Stück für Stück schafften Sanjin und ich es, die Straße zu überqueren. Alle paar Meter blieben wir stehen, legten uns hin, krochen oder gingen weiter. Irgendwie schafften wir es auf die anderen Straßenseite. In den engen Gassen fühlten wir uns schon sicherer, und ich ließ ihn gehen.
Zu Hause fiel mir auf, dass ich seine Telefonnummer nicht kenne, nur seinen Namen und die Adresse. Ich suchte im Telefonbuch, damals gab es noch kein Internet, kein Google, fand seine Nummer und erreichte ihn zu Hause. Als ich wusste, dass er sicher bei seinen Eltern angekommen war, ging mein Tag zu Ende.
Das ist meine Erinnerung an den 6. April 1992, meine definitiv letzte Demonstration, denn eine solche Angst und Sorge mag ich nie wieder erfahren müssen.
Die Freunde, die ich damals hatte, habe ich aber bis heute noch
Der Krieg hat mich insofern verändert, als dass ich seitdem kritischer bin, skeptischer, nicht mehr so blauäugig und naiv. Die Freunde, die ich damals hatte, habe ich aber bis heute noch, sie leben über das ganze Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, aber auch über die ganze Welt verstreut: Australien, Kanada, Amerika, Südafrika, es gibt kaum eine Region, in der ich keine Freunde habe.
Wenn es etwas gibt, das ich nicht mag, dann sind das Grenzen. Mir gefällt nicht die Unterteilung EU – Nicht-EU, Balkan – Nicht-Balkan. Keine Form von Grenzen mag ich. Viel bin ich gereist in den letzten Jahren, und irgendwelche wesentlichen Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Hautfarbe, Nationalität oder Religion habe ich nicht feststellen können.
Menschen unterteile ich in nur zwei Kategorien: die, mit denen ich befreundet sein mag, und die, die ich nicht als Freunde haben will. Letzteres sind vor allem böswillige Menschen, die sich auf Kosten anderer bereichern wollen. Und Freunde sind vor allem solche Menschen, die gerne teilen.