Mirsad Bećirović

"Ich habe das Flair von Sarajevo aufgesogen"

Mirsad Bećirović ist in Frankfurt am Main aufgewachsen. Aber er hat auf dem ZETRA-Konzert mitgefeiert - auch wegen eines Mädchens. Wenn er heute daran zurück denkt, sagt er: "Ich glaube, es hat sich damals bereits abgezeichnet, dass das der letzte Sommer vor dem Krieg da unten werden würde, auch wenn das keiner wahrhaben wollte."

Ich habe meine ersten Lebensjahre in Prozor verbracht, das liegt im Norden der Herzegowina. Dennoch lebe ich schon in der dritten Generation in Deutschland. Mein Vater ist nämlich schon 1970, noch vor der Hochzeit meiner Eltern und meiner Geburt, nach Deutschland gegangen. Eigentlich hatte er von Australien geträumt, er hatte schon alle Papiere zusammen, als er sich sagte: "Von dort komme ich nicht zurück." So fiel die Wahl auf Deutschland. Und mein Großvater beschloss mitzugehen. Er war als Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs drei Jahre lang nach Deutschland verschleppt worden, aber er hatte nichts gegen die Deutschen.

Meine Familie kommt vom Bau, mein Vater ist Maurer und Zimmermann. In Frankfurt arbeiteten er und mein Großvater zum Beispiel am Holiday Inn in Sachsenhausen mit, jedes Mal, wenn wir später dort vorbeifuhren, zeigte er uns das Gebäude und sagte ganz stolz: "Das habe ich mit aufgebaut."

Es gab Eltern, die schon ihren kleinen Kindern beigebracht hatten, dass es Unterschiede gibt, wo eigentlich keine sind.

1977 holte er meine Mutter, meinen zweijährigen Bruder und mich nach. Wir Kinder kamen in den Kindergarten, und die Erzieher packten uns dort mit zwei anderen Kindern aus Mostar zusammen, den Geschwistern Viktor und Viktoria. Ich babbelte so los, ganz normal, wie man es als Kind eben macht, aber sie sagten: "Nein, wir sprechen nicht mit Dir, Du sprichst eine andere Sprache." Ich ging nach Hause zu meiner Mutter und sagte: "Das verstehe ich nicht, die reden genauso wie wir, aber sie behaupten, das sei eine andere Sprache. Kroatisch.“ Das gab es damals schon, die Eltern dieser Kinder waren Nationalisten. Sie hatten ihren Kindern beigebracht, dass es Unterschiede gibt, wo eigentlich keine sind.

Es gab damals bereits Spannungen, auch wenn mir das als Kind und Teenager nicht so wichtig war. Als kleinen Jungs waren uns andere Dinge wichtiger, genauso wie unseren Eltern. Zum Beispiel Freundschaft . Unsere besten Freunde in meiner Kindheit waren Kroaten, aus Osijek, Ante und Tomislav - zwei Brüder genau wie wir. Sie wohnten im selben Haus inFrankfurt wie wir, zwei Stockwerke über uns, und zum Spaß haben wir irgendwann angefangen, unseren Vater Tata zu nennen und die zwei ihren Babo. Das heißt beides "Vater" - "Babo" sagen aber eigentlich nur wir Moslems. Dennoch blieb es dabei: Unser Vater hieß ab da nur noch Tata und ihrer nur noch Babo.

Unsere Eltern waren die besten Freunde. Wenn sie gearbeitet haben waren wir als Kinder immer abwechselnd entweder oben bei ihnen oder unten bei uns in der Wohnung, immer passte jemand auf uns auf. Einige Jahre später, Anfang der Achtziger, gingen Ante und Tomislav mit ihren Eltern wieder zurück nach Osijek. Später, als der Krieg in Kroatien losging, gehörte ihr Vater zu den ersten, die umkamen. Als mein Vater davon erfuhr, war er tagelang nicht ansprechbar, so sehr hat ihn das mitgenommen.

Irgendwann begannen die Leute sich auch in Deutschland stärker in ihre Gruppen zurück zu orientieren. Nicht nur nach Bevölkerungsgruppen, auch die Religion wurde auf einmal wichtig. Richtig bemerkbar machte sich das ab Ende der Achtziger. Wir waren nie besonders religiös gewesen, aber auf einmal ging man wieder in die Moschee, und am Wochenende gab es Glaubensunterricht für die Kinder, in einer Privatwohnung. Für mich war das irgendwie interessant, ich habe dadurch neue Leute kennen gelernt. Unter anderem das Mädchen, ohne dass ich wahrscheinlich nicht auf dem ZETRA-Konzert gewesen wäre. Das muss im Januar oder Februar 1991 gewesen sein, als ich Edita getroffen habe. Wir haben uns öfter gesehen, immer wieder etwas zusammen gemacht, ich mochte sie recht gern. Und dann stellte sich raus, dass wir beide vorhatten, den Sommer in Jugoslawien zu verbringen. Irgendwie habe ich in der Erinnerung das Gefühl, dass es sich schon abzeichnete, dass es vielleicht der letzte Sommer in unserer damaligen Heimat werden würde, auch wenn das keiner wahrhaben wollte.

Ich fuhr also runter, zusammen mit meinem Bruder, wir waren zu Besuch im Haus von meinem Onkel. Und im Fernsehen sahen wir Werbung für das Konzert. Und mir war gleich klar, wir gehen da hin. Ich wusste ja auch, dass Edita ihre Familie in Sarajevo besuchte, ich dachte mir, dann gehe ich auch bei ihr vorbei. Und nachdem meine Mutter meinen Vater überredet hatte, uns gehen zu lassen, nahmen wir den Bus. In Sarajevo besuchte ich Edita. Das war am Tag des Konzerts. Als ich auf dem Weg zu ihr war, begann es bereits zu regnen. Ich hatte eine Bomberjacke an und war völlig durchnässt, als ich endlich das Haus fand. Edita hat sich umgezogen und ist mitgekommen, wir haben die anderen getroffen und sind zur ZETRA gegangen.

Wir standen direkt vor der Bühne. Das war geil, einfach unbeschreiblich. Das war die Musik, die ich mir immer bergeweise auf Kassetten aus dem Urlaub mit nach Deutschland gebracht habe, aber irgendwie anders. Die Musiker der Bands standen auf einmal in ganz anderen Zusammensetzungen auf der Bühne und spielten Songs, die man so von ihnen nicht erwartet hätte. Es war ein einmaliges Erlebnis, aber uns war allen der eigentliche Grund bewusst, warum wir da waren. Es war ja ein Konzert für den Frieden, und diese Energie war auch zu spüren. Davor Ebner, der damals auf der Bühne stand und der auch mit dem ZETRA Project gesprochen hat, habe ich übrigens später in Frankfurt über einen Freund kennen gelernt.

Nach diesem Konzert sind wir noch mal losgezogen, ich habe dieses Flair von Sarajevo aufgesogen. Ich war zuvor noch nie abends dort gewesen. Das war eine geniale Stadt damals, überall Straßenmusiker, die konnten richtig was. Ich bin auch am nächsten Wochenende noch mal nach Sarajevo zu Edita gefahren, meine Mutter war richtig sauer, aber wir das ziemlich egal. Es war ein toller Sommer.

Nach dem Urlaub ging es wieder nach Hause, ich habe in der Druckerei der Frankfurter Rundschau zu arbeiten angefangen und hatte nur noch wenig Zeit für meine Freunde. Am Ende ist mein Kumpel mit Edita zusammen gekommen, sie sind auch einige Jahre zusammengeblieben, das hat mir nicht so gefallen, aber naja, da kann man nichts machen.

So viel Krieg, so viel Leid, so viele Jahre - es fühlt sich manchmal wie eine Käseglocke an, die auch heute noch über dem Land liegt. Da ist so vieles nicht aufgearbeitet worden. Das muss sich ändern.

Mein Name kommt aus dem Persischen und ist abgeleitet von Mirza, übersetzt Prinz. Im Bosnischen haben die zwei Worte Mir und sad aber eine andere Bedeutung, und zwar: "Friede jetzt". Ich weiß nicht, ob das eine irgendwas mit dem anderen zu tun hat. Aber als auch in Deutschland der Druck stieg, als die Leute anfingen, Geld zu sammeln, damit man damit Waffen für den Krieg kaufen konnte, da hat es bei mir echt aufgehört. Die Gastarbeiter haben die Waffen für den Krieg finanziert! Immer mehr Menschen aus meiner Familie sind nach Deutschland geflohen, wochenlang waren wir teilweise bis zu sieben Personen mehr in der Wohnung. Mein Onkel, der jüngere Bruder meines Vaters, geriet in Kriegsgefangenschaft, mein Vater ist dann hingefahren und hat ihn freigekauft. Andere Verwandte haben wir auf einmal auf Euronews auf der Straße gesehen mit ihrem Gepäck, wie sie vertrieben wurden.

Ich bin erst 1998 wieder runtergefahren. Das war zur Beerdigung meines Vaters, er ist gerade mal 50 Jahre alt geworden. Dieses Jahr habe ich wie in Trance in Erinnerung, mein Vater war sehr krank, und aus unserer Familie wurde einer nach dem anderen wieder abgeschoben.

Heute fahre ich regelmäßig hin, aber ich muss mich schon zusammenreißen, wenn ich immer wieder höre, wie über den Krieg und die alten Geschichten geredet wird. Es heißt ja immer, ich könne nicht mitreden, ich hätte das nicht miterlebt. Aber meine Tante ist während der Belagerung von Sarajevo an Schwangerschaftskomplikationen gestorben, meine andere Tante hat ein Auge, mein Onkel ein Bein verloren. Ich weiß, was Krieg anrichten kann. Doch es muss irgendwann weitergehen. So viel Krieg, so viel Leid, so viele Jahre - es fühlt sich manchmal wie eine Käseglocke an, die auch heute noch über dem Land liegt. Da ist so vieles nicht aufgearbeitet worden. Das muss sich ändern.