Senada Ninić

„Der Krieg war unser Alltag. Das Geräusch fallender Granaten war so gewöhnlich, dass man es nicht einmal mehr wahrnahm“

Mit drei Freundinnen besuchte Senada Ninić das Friedenskonzert in der Zetra. Niemand dachte an einen möglichen Krieg. Für die damals 16-Jährige war die Veranstaltung eine große Party. Kurze Zeit später hatte sich das Leben von Senada um 180 Grad gedreht. Als freiwillige Mitarbeiterin in einem Krankenhaus, erlebte sie als 18-Jährige die Folgen eines dramatischen Massakers in Sarajevo.

Am Tag des Konzertes hat es unglaublich stark geregnet. Daran erinnere ich mich noch sehr gut. Doch das hat unsere Stimmung nicht getrübt. Zum Konzert bin ich mit drei Freundinnen gegangen. Ich war damals 16. Für uns war das Ganze einfach nur ein riesiger Spaß. Über Krieg und Frieden hat keiner nachgedacht. Warum auch? Unser Leben war schön wie es war und Krieg etwas Unvorstellbares. In diesem Alter denkt man nicht darüber nach, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Die ganze Veranstaltung war für uns eher ein großes Fest, eine Party – und wenn man schon mal da war, konnte man auch seine Stimme für den Frieden erheben. Nicht einmal im Entferntesten hat jemand von uns an einen Krieg geglaubt.

Senada mit ihrer Mutter 1978 in dem Ort Otoka in Bosnien

Wir wollten mit dem Bus zur Zetra fahren, aber alle Busse waren dermaßen überfüllt, dass wir zunächst in keinen mehr reinpassten. Wir sind dann ein paar Stationen zurückgelaufen – dorthin, wo nicht so viele Leute einstiegen. Als wir ankamen, war es in der Halle bereits sehr voll. Ich glaube, Menschen aus allen Ecken Jugoslawiens waren gekommen. Trotzdem haben wir es geschafft, uns irgendwie in die ersten Reihen vorzudrängeln, um ganz nah an der Bühne und somit an unseren musikalischen Idolen zu sein. Als ich später irgendwann die Konzertaufnahmen sah, habe ich versucht uns im Bild zu finden – leider habe ich uns nicht entdeckt.

Nach dem Konzert, im Sommer 1991, bin ich mit meiner Familie nach Kroatien ans Meer gefahren. Ich erinnere mich, dass überall Plakate der nationalistischen HDZ, der Kroatischen Demokratischen Union, hingen. Nur wusste ich damals nicht, dass es um eine Partei geht. In meiner jugendlichen Naivität verwechselte ich sie mit einer Fan-Gruppe des Fußballvereins FK Sarajevo, die sich mit HZ abkürzt. Ich weiß noch, wie ich dachte: Ist ja komisch, dass die Plakate der Gruppe selbst in Kroatien hängen.

Ich denke, ich spreche für eine ganze Generation, wenn ich sage, dass niemand von uns jemals einen Krieg für möglich gehalten hätte. Nicht in Bosnien. Schon gar nicht in Sarajevo. Natürlich waren zu diesem Zeitpunkt bereits Kämpfe in Kroatien und Slowenien ausgebrochen. Und obwohl diese so nah waren, fühlten sie sich sehr weit weg an. Nicht einmal als es die ersten Barrikaden in Sarajevo gab und Menschen auf den Straßen kontrolliert wurden, dachten wir, die Situation sei ernst. Wer hätte denn ahnen können, dass eine vierjährige brutale Belagerungszeit auf uns zukommen würde?

Doch ein paar Monate später stehst du plötzlich da und die Welt um dich herum hat sich um 180 Grad gedreht.

Als der Krieg tatsächlich an unserer Haustür ankam, hatte ich gerade das vorletzte Schuljahr vor dem Abitur abgeschlossen. Im neuen Schuljahr wurde der Unterricht in irgendwelchen Kellern organisiert. Und immer, wenn gerade keine Granaten fielen, fand der Unterricht in meiner Schule statt, die sich an der Skenderija, im Zentrum Sarajevos, befand. Mitten im Krieg machte ich also meinen Schulabschluss. Geprüft wurden wir in irgendwelchen Bunkern. Am Tag meines Abiballs war es warm. Es war ein sehr schöner Tag, da wenig geschossen wurde. Obwohl ich mich mitten im Krieg befand, fragte ich mich als Jugendliche: Was ziehe ich bloß an?

Ich entschied mich für einen Rock und eine schöne Bluse. Das Problem war jedoch, meine Kleidung ohne Strom zu bügeln. Wir haben dann zuhause Holz gesammelt, es angezündet und in den Ofen geschmissen. Auf dem Ofen habe ich das Bügeleisen heiß gemacht und anschließend meine Kleidung gebügelt. Es ist verrückt, wie man versuchte unter diesen widrigen Umständen so normal wie möglich zu leben. All das zeigte mir, dass es immer einen Weg gibt.

Senada in ihrer jugoslawischen Pioniersuniform

Nachdem ich mein Abitur gemacht hatte, habe ich angefangen als Freiwillige im Krankenhaus im Bezirk Koševo in Sarajevo zu arbeiten. Damals hatten alle Krankenhäuser der Stadt dazu aufgerufen, sich als Freiwillige zu melden. Man wurde als medizinisches Hilfspersonal meistens in der Orthopädie oder Chirurgie eingesetzt. Das Krankenhaus organisierte eigene Busse, die die Mitarbeiter immer abholten und auch wieder nach Hause brachten – schließlich war es gefährlich durch die Stadt zu laufen.

Als ich erst angefangen hatte in Koševo zu arbeiten, wurde in Sarajevo das Markale-Massaker verübt, bei dem Mörsergranaten auf einem Marktplatz detonierten und mehr als 60 Menschen töteten und mehr als Einhundert verletzten. Die Opfer wurden zu uns ins Krankenhaus gebracht. Das waren unglaubliche Szenen, die sich tief ins Gedächtnis graben. Überall war Blut, Menschen verloren Arme, Beine, es wurden sämtliche Amputationen durchgeführt. Wir kamen mit der Arbeit kaum hinterher. In diesem Moment funktionierst du und machst einfach weiter. Ich wusste, dass das, was passierte, schrecklich war, aber auch das gehörte während des Krieges zum Alltag im Krankenhaus. Auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt erst 18 Jahre alt war.

Senada besuchte eine Freundin zum Kaffee Trinken 1993

All diese Erinnerungen an den Krieg fühlen sich für mich noch immer sehr nah an – als wäre das alles erst vor ein paar Monaten gewesen. Der Krieg war unser Alltag. Das Geräusch fallender Granaten war so gewöhnlich, dass man es nicht einmal mehr wahrnahm. Man wusste genau, an welchen Stellen in der Stadt man rennen musste, damit einen die Scharfschützen nicht erwischen. Wenn es kein fließend Wasser gab, wusste ich, wo ich welches holen konnte. Ich lernte Feuer zu machen und damit zu kochen. Und wenn es mal Strom gab, haben wir schnell die Waschmaschine angemacht oder ein paar Minuten ferngesehen oder Radio gehört. Wenn wir Glück hatten, hatten wir Kaffee zu Hause und haben diesen genüsslich getrunken. Ich habe das Gefühl, wir Menschen hätten damals alle enger beieinander gestanden, als wir es heute tun. Wir haben uns gegenseitig geholfen, wo es nur ging, haben versucht einander zu unterstützen.

Ich hatte damals keine Angst. Zumindest glaube ich das. Man wusste ja nicht, was auf einen zukommen würde, also lebte man in den Tag hinein und machte das Beste daraus. Aber wenn ich heute an all das denke, wird es mir sofort übel und ich bekomme Bauchschmerzen. Nervlich würde ich eine solche Zeit definitiv nicht noch einmal überstehen.

Wenn ich an Krieg denke, bekomme ich große Angst. Warum musste das hier passieren, warum hat es ausgerechnet uns getroffen? Diese Gedanken habe ich mir noch häufig gemacht.

Bis heute wohne ich noch immer in derselben Gegend in Sarajevo, in der ich auch aufgewachsen bin. Ich bin nur von einer Straße in die nächste gezogen. Die Stadt hat sich sehr verändert – es sind so viele Menschen weggezogen und so viele neue hinzugekommen. Ich habe mich sehr darüber gefreut, als ich das Zetra Project entdeckt habe. Ich finde es toll, dass jemand an dieses tolle Ereignis erinnert und zeigt, wie wir Menschen über den Krieg gedacht haben. Wir sollten uns häufiger an diese schöne Zeit erinnern.