Senka Kurt

Kekse aus Vietnam

Auch die heute 49-jährige Senka Kurt, Tochter eines Katholiken und einer Muslima, feierte vor 25 Jahren mit ihren Freunden in der ZETRA-Halle. Damals arbeitete sie für die größte bosnische Tageszeitung Oslobođenje, 2001 wechselte sie zu RSG Radio ins Nachrichtenprogramm und gründete eine PR und Online-Marketing Agentur. Ihr Mann ist der bekannte bosnische Sänger und Schauspieler Almir Kurt.


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Ich erinnere mich noch sehr genau an das Konzert in der Zetra-Halle. Einer dieser Momente im Leben, die man nie vergisst: Dazu zählen viele Erlebnisse im Krieg und während der Belagerung Sarajevos, der 11. September 2001, aber auch die Geburt meines Sohnes und das Konzert am 28. Juli 1991.

Ich weiß noch genau, wie sich die Euphorie damals anfühlte. Ich habe damals nichts vom Krieg geahnt. Und selbst wenn ich den Krieg vorausgesehen hätte, nie und nimmer hätte ich gedacht, dass er so blutig und brutal sein würde. Wenn ich heute an das Konzert denke, wenn ich sehe, wie viele Menschen damals ihren Wunsch nach Frieden bekundet haben, dann frage ich mich, warum man ihnen diesen nicht erfüllen konnte.

Ich erinnere mich genau, was ich damals anhatte: Ich war Punkerin. Wir waren in dieser Zeit völlig verrückt. Haben das Leben in vollen Zügen aufgesogen, wir waren so viel feiern, so viel tanzen, haben kaum geschlafen - es war, als wüssten wir, dass der Krieg bald ausbrechen wird.

Ich kann mich an einen Moment während des Konzerts erinnern, da wurde mir bewusst, wie tief die Gräben schon waren. Als die beiden Musiker Goran Bregovic und Haris Djinovic auf die Bühne traten und das Lieg sangen: „Der Stern vertreibt den Mond“. Eigentlich ein harmloses Volkslied, aber der Stern galt damals als Sinnbild für die Partisanen, die Kommunisten, die Jugoslawen, und der Mond stand für die Moslems und die Bosniaken, die einen eigenständigen Staat haben wollten. Wenn man also wollte, konnte man in dieses Lied eine Menge hineininterpretieren. Und als das Publikum zu jubeln begann, habe ich mir zum ersten Mal echte Sorgen gemacht, ich hatte Angst um die Sicherheit der Menschen in der Halle, davor, dass sie gerade etwas bejubeln, das anderen vielleicht nicht passen könnte. Ich fürchtete Gewalt.

Heute bin ich die einzige von uns allen, die noch immer in Bosnien, in Sarajevo lebt.

Ich erinnere mich auch ganz genau, wo ich während des Konzerts stand. Ich stand unten, relativ nah an der Bühne, zusammen mit meiner Clique. Wir waren so 15, 16 Leute. Heute bin ich die einzige von uns allen, die noch immer in Bosnien, in Sarajevo lebt. Zwei sind gestorben, die anderen sind fortgezogen, nach Australien, Belgien, Amerika, Schweden, Deutschland, in die Schweiz. Fast mit allen von ihnen habe ich noch Kontakt. Aber ganz ehrlich: Von ungefähr fünf Prozent will ich nicht wissen, wie es ihnen geht und was sie getan haben. Vielleicht waren sie in den Bergen hinter der Stadt, von wo aus Sarajevo beschossen und belagert worden ist. Ich möchte gar nicht daran denken, ob sie vielleicht auch selbst geschossen haben.

Ich rede über den Krieg. Als Mensch mit einer posttraumatischen Belastungsstörung tut es mir gut, darüber zu sprechen. Es war eine starke, eine intensive und auch eine gute Zeit - so grausam das klingen mag. Neben all dem Leid, den Opfern und dem Tod ist der Krieg auch eine Zeit, in der alles an die Oberfläche kommt, in der Du genau erkennst, wie ein Mensch ist: ob er gut ist oder schlecht, ob er in der Not sein Brot mit dir teilt oder nicht. Ich war vier Jahre im Krieg und kann heute von mir behaupten, dass ich ein guter Mensch bin. Das weiß ich jetzt, nachdem ich all das durchgemacht habe. Als Journalistin war ich viel an der Front, ich habe da sehr viel gesehen, ich habe das Massaker 1995 an der Markthalle Markale in Sarajevo erlebt, die Explosion gehört, die vielen Leichen gesehen.

Heute habe ich einen Sohn, er ist sieben Jahre alt. Ich habe ihn Sin genannt, das bedeutet „Sohn“. An diesem Namen kann man nicht sofort erkennen, ob er muslimisch, katholisch oder serbisch-orthodox ist. Ich wünsche mir, dass mein Kind ein Kind der Welt wird, dass er weltoffen ist. Es ist so wichtig, dass Menschen durch die Welt reisen, andere Menschen kennen lernen, in Kontakt miteinander kommen. Liebt Euch, küsst Euch, streitet miteinander - aber kommuniziert miteinander. Wir dürfen nie aufhören, miteinander zu reden! Denn wenn das ausbleibt, entstehen Missverständnisse. So war es zwischen Slowenen, Kroaten, Bosniern und Serben.

Bis heute kann ich nicht verstehen, warum Europa diesen Krieg zugelassen hat? Warum hat Europa Vukovar zugelassen? Srebrenica? Sarajevo? Prijedor? Kosovo? Die Massaker? Konzentrationslager? Srebrenica ist nur eine Flugstunde von Wien entfernt. Ich kriege diese Frage nicht aus meinem Kopf. Warum haben sie bis 1995 gewartet, bis sie endlich etwas gegen die Belagerung Sarajevos und gegen den Krieg unternommen haben? Es hat so unglaublich lange gedauert. Wir haben damals in Hilfslieferungen erhalten mit Keksen aus Vietnam - abgelaufen im Jahr 1966. ­Die mussten wohl noch weg. Aber hey, wenn Ihr diese Sachen loswerden wolltet, dann macht das doch ohne Krieg. Schickt uns Eure Kekse, und wir essen sie auf. Ganz ohne Krieg.

Ich bin froh, dass ich mich heute wieder an das Konzert in der ZETRA-Halle erinnere. Wir haben heute alle vergessen, welche Bedeutung es damals für uns alle hatte. Weil es nichts gebracht hat, es hat den Krieg nicht aufgehalten. Aber das stimmt nicht. Es hat viel gebracht: Wir haben gezeigt, dass Abertausende dagegen waren und an den Frieden geglaubt haben.