Stela Iličić

„Wer könnte schon derart ausgelassen feiern, wenn er wüsste, dass er sich sehr bald inmitten eines Krieges befinden wird?“

Als die Schlachten begannen, war Stela Iličić ein vier Jahre altes Mädchen und lebte im nordbosnischen Živinice. Erst kurz vor Ende des Krieges floh sie mit ihren Eltern nach Berlin – endlich kein Sirenengeheul mehr, keine Panzer, Bomben und Bunker, endlich das Gefühl, sicher zu sein. Heute studiert sie Soziologie und Verkehrsplanung in Berlin.

Mitten im Krieg, im Spätsommer 1994, kam ich in die Schule. Eine Erinnerung daran ist mir besonders hängen geblieben: Meine Tante, mittlerweile nach Deutschland geflohen, schickte mir zur Einschulung ein Paket gefüllt mit Stiften, Bergen an Süßigkeiten und einem Schulrucksack. Endlich wieder Schokolade! Am meisten freute ich mich aber über den Rucksack. Ich konnte es kaum abwarten, ihn meinem besten Freund zu zeigen. Als ich ihn auf dem Schulweg traf und sah, dass er statt eines Rucksacks eine Plastiktüte in seiner Hand hielt, wollte ich meinen vor Scham nur noch loswerden. Immer wieder wich kurzzeitig erlangte Freude dem Kriegsalltag.

Meine Eltern und ich blieben fast die gesamte Kriegszeit in Bosnien. Erst im Frühjahr 1995 flohen wir zunächst nach Kroatien, ein paar Monate später dann weiter nach Berlin. Die ersten Jahre meiner Kindheit erlebte ich wie viele andere auch als Wirrwarr aus Sirenenheulen, Bombardements und der gleichzeitigen Bewältigung des Alltags. Warum Krieg herrschte, bekamen auch wir Kinder immer mehr mit. Überall sprach man nur noch von Serben, Kroaten oder Bosniaken. Meine Eltern, Vater Kroate und Mutter Serbin, sahen sich immer als Jugoslawen und gaben dies auch an mich weiter. Dass ich eine serbische Mutter habe, erfuhr ich erst, als mich ein Kind beim Spielen als „Četnik“ beschimpfte.

Stelas Schulklasse in Bosnien, 1994/1995. Sie ist das Mädchen mit der gelben Hose in der Mitte des Bildes.

In Kroatien wurden diese Unterschiede für mich zunehmend deutlicher. Zu unserem Schutz gab sich meine Mutter als Kroatin aus und ich durfte nach außen kein Wort darüber verlieren welcher Nationalität sie tatsächlich angehörte. Als ich schließlich mitbekam wie eine meiner Mitschülerinnen, die Serbin war, nahezu täglich von Mitschülern geschlagen und ausgegrenzt wurde, verstand ich warum. Und auch unsere Vermieterin wollte alles, nur keine Serben bei sich wohnen lassen.

Auch die Lerninhalte in der Schule wurden recht schnell den nationalen Bestrebungen angepasst. Als Neuankömmling musste ich als erstes im Kroatischunterricht, wie es jetzt hieß, die kroatische Nationalhymne auswendig lernen und vortragen. Obwohl fehlerfrei vorgetragen, bekam ich nur die Note 2, weil eine bessere Note mit meinem bosnischen Akzent nicht vereinbar war. Im Kunstunterricht malten wir die kroatische Nationalflagge mit dem Wappen im rot-weißen Schachbrettmuster.

„Wir alle saßen in derselben Falle, lediglich auf jeweils anderen Seiten des Bombenhagels.“

Abseits der Brutalität und des Nationalismus stärkte der Krieg aber auch den Zusammenhalt und die Menschlichkeit. Ich denke oft an den jungen Bosniaken vom lokalen Radiosender, der meiner Mutter ermöglichte, endlich ein Lebenszeichen von ihrer Familie zu erhalten und gleichzeitig selbst dabei viel riskierte. Oder an meine Mutter, wie sie für unseren Nachbarn, den sie früher nie ausstehen konnte, die Polizei anlog und ihn so vor dem Einzug an die Front bewahrte.

Der Feind waren nicht die einfachen Menschen, sondern der Krieg selbst. Wir alle saßen in derselben Falle, lediglich auf jeweils anderen Seiten des Bombenhagels. Viele vergessen auch, dass in jedem Krieg eigene Regeln und eine eigene Dynamik herrschen, gegen die sich ein einfacher Mensch kaum wehren kann. Man wird gegen den eigenen Willen eingezogen oder lässt sich definieren und kategorisieren, nur um das eigene Leben schützen zu können. Es herrscht der Irrsinn, nicht mehr die Vernunft!

Hass zu schüren ist einfach, ein gemeinsames, friedliches Miteinander erfordert hingegen Arbeit und enorm viel Mut.

Heute sind meine Gedanken an Bosnien mit Wut über den Stillstand des Landes und das Verharren in nationalistischen Komfortzonen verbunden. Hass zu schüren ist einfach, ein gemeinsames, friedliches Miteinander erfordert hingegen Arbeit und enorm viel Mut.

Was mir auch nahegeht, ist die weit verbreitete Annahme, wir dort unten hätten uns „eh nie gegenseitig gemocht und der Krieg sei ja das Produkt des Zwanges zusammenzuleben gewesen". Natürlich verantworten zuallererst wir selbst solche Schlussfolgerungen, und dennoch sind sie zu einseitig und einfach gehalten. Solche Vereinfachungen vernachlässigen die Würdigung jener Menschen, die gegen den Krieg waren und jener Familien und Freundschaften, die jenseits jeglicher religiöser Grenzen bestanden. Ich wünsche mir vor allem, dass bei der Vergangenheitsaufarbeitung deutlich mehr an all diejenigen erinnert wird, die für den Frieden einstanden und unabhängig von auferlegten Zugehörigkeiten lebten. Immer wieder begegnen mir Menschen, die bis heute im Geiste dieser Vorkriegszeit leben, was mir zeigt, dass ein friedliches Zusammenleben nicht bloße Einbildung war.

Dennoch fiel es auch mir all die Jahre schwer, die Worte meiner Eltern zu verstehen. Sie sagten immerzu: "Niemand wollte diesen Krieg, niemand glaubte daran, dass es uns passieren könnte!" Auch wenn mich diese Worte trösteten und mir Hoffnung gaben weiterhin an das Gute zu glauben, so waren sie zugleich auch schmerzhaft und machten mich nachdenklich darüber, ob und wie diese schicksalhafte Zeit zu verhindern gewesen wäre.

Stela heute in Berlin, wo sie seit mehr als zwanzig Jahren lebt.

Letztes Jahr entdeckte ich die Aufnahmen vom ZETRA-Konzert, ein Puzzlestück mehr, um die Friedensbewegung zu verstehen. Es war eher zufällig, bei einem meiner nostalgischen Momente, meine Bildung in jugoslawischer Musikgeschichte auf Youtube nachzuholen. Ich war ergriffen, noch Tage danach. Endlich ein Stück Geschichte, das nicht Brutalität und Wahnsinn dokumentiert, sondern Hoffnung, Zusammenhalt und die Entschlossenheit, für den Erhalt des Friedens zu feiern. Das unerwartete Gefühl des Überrolltwerdens durch Ereignisse, auf die man keinen Einfluss mehr hatte, dieses Gefühl, von dem meine Eltern und viele andere Menschen immer wieder sprachen, verstand ich endlich. Wer könnte schon derart ausgelassen feiern, wenn er wüsste, dass er sich sehr bald inmitten eines Krieges befinden würde?

Projekte wie dieses sind wichtig, um endlich an die Mehrheit der Menschen, die diesen Krieg nicht wollte und sich dennoch mittendrin befanden, zu erinnern. Auch wenn ich zur Zeit des Zetra-Konzerts erst drei Jahre alt war, fühle ich mich auf der Bühne vertreten: durch die Grundschülerin Jadranka Pejaković, die in meiner Heimatstadt Unterschriften gegen den Krieg sammelte, durch diese alte Generation an Musikern, die ich bis heute noch schätze und allen voran durch all die Menschen, die da waren und mir und allen anderen versuchten zu ersparen, was dann folgte.