Zu welchen Konflikten kam es in den 1990ern auf dem Balkan?
Mit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens ging eine Serie von Kriegen einher. Dabei handelt es sich im Einzelnen um den Kroatienkrieg zwischen 1991 und 1995 und den Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995. Diesen waren Gefechte in Slowenien vorangegangen, die nach zehn Tagen mit einer friedlichen Lösung des Konflikts endeten. Der Kosovokrieg in den Jahren 1998 und 1999 war der letzte bewaffnete Konflikt auf dem Balkan.
Was machte das ehemalige Jugoslawien zu einem Vielvölkerstaat?
Im sozialistischen Jugoslawien lebte eine ganze Reihe ethnischer und religiöser Gruppen in einem Staat zusammen: orthodoxe Serben, katholische Kroaten, muslimische Bosniaken und andere. Jugoslawien setzte sich aus sechs Teilrepubliken zusammen: Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Slowenien und Montenegro. Innerhalb Serbiens gab es zwei autonome Provinzen, das Kosovo und die Vojvodina. Serbien war die größte Teilrepublik; außerdem lebten in anderen Teilrepubliken, vor allem in Bosnien und Kroatien, große serbische Minderheiten.
Wie kam es zum Zerfall des Vielvölkerstaats?
Die Gründe für den Zerfall Jugoslawiens sind komplex und in einander verwoben. Seit Anfang der 1980er Jahre steckte Jugoslawien in einer Wirtschaftskrise. Dabei kam es zu Streitigkeiten über die Verteilung der Mittel zwischen den wohlhabenderen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien einerseits und den ärmeren restlichen Landesteilen andererseits.
Im Zuge der Wirtschaftskrise kamen nationalistische Tendenzen wieder auf, die unter dem 1980 gestorbenen Staatsgründer Josip Broz Tito unterdrückt worden waren. Spannungen zwischen den einzelnen Teilrepubliken führten schließlich dazu, dass sich zunächst Slowenien und Kroatien, dann auch Mazedonien und Bosnien-Herzegowina von Jugoslawien lossagten.
Welche Rolle spielten Konflikte zwischen den einzelnen Volksgruppen?
Zwar hatte es im Lauf der Geschichte immer wieder Spannungen und zum Teil sehr blutige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen auf dem Balkan gegeben. Als Folge dieser Konflikte gab es auch in Titos sozialistischem Jugoslawien unterschwellige nationalistische Strömungen.
Dennoch sah sich einer Umfrage zufolge noch im Jahr 1990 die Mehrheit der Bürger an erster Stelle als Jugoslawen und an zweiter Stelle als Europäer. Erst an dritter Stelle folgte die Zugehörigkeit zur Teilrepublik oder Region. Ferner gab es im ehemaligen Jugoslawien etwa 800.000 Mischehen, in Sarajevo war sogar fast jede dritte Ehe eine Mischehe. Religion spielte im Vielvölkerstaat keine große Rolle.
Viel spricht für die These, dass die ethnischen Spannungen nicht die Ursache, sondern die Folge des Zerfalls Jugoslawiens waren. Es war keineswegs eine natürliche und unvermeidliche Entwicklung, die dazu führte, dass sich diese Spannungen im Krieg entluden. Vielmehr waren es führende Politiker, die bewusst gewaltbereite Nationalisten Angst und Hass schüren ließen und so einen Krieg in Kauf nahmen.
Welche Rolle spielte Slobodan Milosevic?
Wenn man eine Person als den Urheber der Jugoslawienkriege bezeichnen kann, dann den damaligen Präsidenten Serbiens, Slobodan Milosevic. Dieser sah im Wiedererstarken des serbischen Nationalismus eine Gelegenheit für sein eigenes politisches Fortkommen. Gestützt auf eine Gruppe serbischer Nationalisten aus dem Kosovo und mit Hilfe Verbündeter im serbischen Staatsfernsehen wurden die serbischen Minderheiten in Kroatien und Bosnien in Angst versetzt.
So berichtete das serbische Fernsehen ausführlich über Massaker, die kroatische Faschisten im Zweiten Weltkrieg an Serben verübt hatten. Unter den serbischen Minderheiten verbreitete sich die Angst, dass ihnen in einem unabhängigen Kroatien beziehungsweise einem unabhängigen Bosnien ein ähnliches Schicksal drohen würde.
Dies bereitete den Boden für das Ausbreiten einer „großserbischen“ Ideologie. Diese sah die Errichtung eines „Großserbiens“ vor, zu dem nicht nur Serbien gehören sollte, sondern dem auch die Teile Bosniens und Kroatiens einverleibt werden sollten, in denen viele Serben lebten.
Gab es Nationalismus nur unter der serbischen Bevölkerung?
Nein. Auch unter Kroaten und Bosniaken gab es nationalistische Minderheiten, die ein ethnisch homogenes Großkroatien beziehungsweise Großbosnien wollten. So wollte etwa die neugewählte kroatische Regierung unter Franjo Tudjman die Serben in Kroatien von einem staatstragenden Volk zu einer Minderheit mit Minderheitenrechten degradieren.
Was ist „ethnische Säuberung“?
Der Begriff „ethnische Säuberung“ wird heute wie kein zweiter mit den Gräueltaten und Verbrechen der Jugoslawienkriege assoziiert. In Deutschland wurde er 1992 zum Unwort des Jahres gewählt. Um einen „großserbischen“ Staat errichten zu können, sollten die Teile Bosniens und Kroatiens, in denen viele Serben lebten, von Bosniaken beziehungsweise Kroaten befreit werden. So sahen es etwa Milosevic und Radovan Karadzic, der Führer der bosnischen Serben, vor. Das Mittel dazu waren oft Massenvertreibungen und Massaker, den zumeist bosnische Muslime zum Opfer fielen. Das schlimmste darunter war das Massaker in der ostbosnischen Stadt Srebrenica, in der im Juli 1995 bosnisch-serbische Truppen und Paramilitärs mehr als 8.000 muslimische Männer und Jungen im wehrfähigen Alter töteten.
Auch serbische Zivilisten wurden Opfer von Massakern, die bosniakische beziehungsweise kroatische Kämpfer bei Vergeltungsaktionen verübten.
Wo wurde gekämpft?
Stark vereinfacht, lässt sich das militärische Geschehen in den Kriegen in Bosnien und Kroatien in zwei Phasen unterteilen: In der ersten Phase vor allem in den Jahren 1991 und 1992 eroberten die Serben große Gebiete in Kroatien (etwa ein Drittel des Territoriums) und in Bosnien (etwa 70 Prozent der Fläche des Landes). Dabei gingen sie meist nach der gleichen Methode vor: Örtliche Soldaten wurden unterstützt von Freischärlern aus Serbien und von der jugoslawischen Armee (beziehungsweise in Bosnien: jugoslawischen Soldaten bosnisch-serbischer Herkunft). Die bosnische Hautstadt Sarajevo belagerten sie fast vier Jahre lang. Auch Kroaten und Bosniaken kämpften in dieser Zeit gegeneinander, etwa in der herzegowinischen Stadt Mostar.
Die zweite Phase war durch bedeutende Rückeroberungen der kroatischen und bosnischen Armeen geprägt. Vor allem im Jahr 1995 kam die militärische Wende. Die Internationale Gemeinschaft reagierte auf das Massaker von Srebrenica und die anhaltende Belagerung Sarajevos. Ab August 1995 flogen Kampfjets der Nato Luftangriffe gegen die Stellungen der bosnisch-serbischen Armee. Auf Initiative des US-amerikanischen Unterhändlers Richard Holbrooke unterzeichneten im November 1995 die Staatsoberhäupter Alija Izetbegovic (Bosnien-Herzegowina), Slobodan Milosevic (Serbien-Montenegro) und Franjo Tudjman (Kroatien) im US-Bundesstaat Ohio das Dayton-Abkommen, das den Bosnienkrieg beendete.
Wurden die Verbrechen der Jugoslawienkriege bestraft?
Durch einen Beschluss des Uno-Sicherheitsrats wurde 1993 der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien geschaffen. Das Tribunal ist für Kriegsverbrechen zuständig, die nach dem 1. Januar 1991 dort verübt wurden.
Das vielleicht wichtigste Verfahren vor dem Gerichtshof wurde nie zu Ende geführt: Der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milosevic starb am 11. März 2006 in seiner Zelle. Die Anklage warf Milosevic vor, während der Kriege in Kroatien, Bosnien und im Kosovo Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben.
Das politische Oberhaupt der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, wurde im März in erster Instanz zu 40 Jahren Haft verurteilt. Das Tribunal befand ihn unter anderem des Völkermordes im Zusammenhang mit dem Massaker von Srebrenica für schuldig.
Ratko Mladic, der frühere Militärchef der bosnischen Serben, ist wegen Völkermordes, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt – unter anderem im Zusammenhang mit dem Massaker von Srebrenica und der Belagerung von Sarajevo.
Der kroatische General Ante Gotovina wurde 2012 im Berufungsverfahren freigesprochen. Damit wurde das Urteil aus der Vorinstanz aufgehoben, in dem Gotovina wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Vorgehen gegen die serbische Bevölkerung in Kroatien zu 24 Jahren Haft verurteilt worden war. Der Internationale Strafgerichtshof hatte es 2011 als erwiesen angesehen, dass Gotovina maßgeblich für ungesetzliche Angriffe sowie Morde, Vertreibungen und Plünderungen in seinerzeit von Serben bewohnten Teilen Kroatiens verantwortlich war. Die Anklageschrift in dem Prozess galt Beobachtern auch als juristische Abrechnung mit dem damaligen kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman. Zusammen mit ihm und anderen, argumentierte die Anklage, habe Gotovina eine "gemeinsame verbrecherische Vereinigung" gebildet. Tudjman starb 1999, während Ermittlungen gegen ihn im Gange waren.
Der ehemalige Kommandeur muslimischer Polizeitruppen in Srebrenica, Naser Oric, wurde in einem Berufungsprozess freigesprochen. In erster Instanz war Oric für die Ermordung und Misshandlung von Serben in muslimischen Gefängnissen durch ihm unterstellte Einheiten in den Jahren 1992 und 1993 verurteilt worden.
Gab es eine Friedensbewegung?
Ja. In den Jahren 1991 und 1992 gab es in Jugoslawien zahlreiche Friedenskundgebungen mit zum Teil mehr als 100.000 Teilnehmern. Es fanden mindestens 18 Friedenskonzerte mit mehr als 10.000 Teilnehmern statt. Daneben gab es weitere vereinzelte Antikriegsaktionen.