Alma Šuman
„Sarajevo war immer für uns alle da"
Ihr Bruder wurde während seines Wehrdienstes bei der Jugoslawischen Volksarmee nach Slowenien versetzt, als dort der 10-Tage-Krieg tobte. Alma Šuman und ihre Eltern hörten mehr als einen Monat nichts von ihm. Als er im Juli 1991 nach Sarajevo zurückkam, wusste Alma, dass sie sich nun noch energischer für den Frieden einsetzen würde. Bis heute kämpft sie für das Zusammenleben aller Ethnien und die Zukunft von Kindern in Bosnien.
Mein jüngerer Bruder leistete 1991 seinen Wehrdienst bei der Jugoslawischen Volksarmee ab. Niemand konnte sich aussuchen, wo er landen würde, er kam damals nach Skopje. Meine Eltern und ich machten uns große Sorgen, als wir im Sommer 1991 ein paar Wochen nichts von ihm gehört hatten. Irgendwann rief uns einer seiner Kameraden an und sagte, mein Bruder sei nach Slowenien verlegt worden. Der 10-Tage-Krieg war bereits vorbei und Slowenien offiziell unabhängig. Wir hörten, dass viele der JNA-Soldaten in Gefängnisse gebracht wurden und machten uns riesige Sorgen um meinen Bruder.
Wir kontaktierten sämtliche Behörden, humanitäre Einrichtungen und seine Freunde, doch es dauerte Wochen, bis wir ihn wiedersahen. Täglich standen wir am Bahnhof in Sarajevo und warteten darauf, dass er aus einem der vielen Züge steigen würde. Mehrere pro Tag kamen mit Soldaten der Armee an. Doch erst knapp einen Monat nachdem wir erfahren hatten, dass er in Slowenien ist, kam er endlich zurück nach Sarajevo. Das war Mitte Juli 1991. Umso mehr Energie steckte ich dann in den Kampf gegen den Krieg und für den Frieden.
Wenn ich an diesen 28. Juli 1991 denke, werde ich sofort emotional. Ich war tagsüber bereits bei verschiedenen Protesten in der Stadt dabei und bin mit meinen Freunden von dort aus direkt in die ZETRA-Halle gefahren. Ich war damals 21 und habe – wenn ich heute darauf zurückblicke – in einem Märchen gelebt. Überall sah ich jugoslawische Flaggen, junge Menschen voller Motivation und positiver Energie. Es wurde gesungen, gelacht, getanzt und gefeiert. Die Gespräche auf dem Konzert liefen so ab: „Ich komme aus Belgrad, ich aus Ljubljana, ich aus Zagreb und ich aus Skopje.“ Worte können nicht wiedergeben, wie sich die Atmosphäre damals angefühlt hat. Worte würden der Sache nicht gerecht. Ich bezeichne mich als starke und wortgewandte Person, doch, wenn ich an diese Zeit denke, bekomme ich heute noch Gänsehaut und meine Stimme beginnt zu zittern.

Ich kam erst am nächsten Morgen nach Hause. Die gesamte Stadt schlief die Nacht über nicht. Es wurde einfach durchgefeiert. Als ich zu Hause ankam, dachte ich: Ein Krieg hat bei uns keine Chance. Es ist unmöglich, diese Masse an Menschen, die für das Gute kämpft, zu überstimmen. Obwohl es am Tag des Konzertes so stark regnete, waren selbst achtjährige Kinder auf Sarajevos Straßen unterwegs, um Unterschriften für den Frieden zu sammeln.
Ich musste nicht davon überzeugt werden, dass alles gut werden würde. Ich war davon überzeugt und fragte mich nur, wann wir endlich ans Meer fahren würden.
Auf dem Konzert und in der Nacht danach lernte ich so viele neue Menschen kennen. Wir tauschten Telefonnummern und Adressen aus und vereinbarten, uns den Sommer über irgendwo am Meer treffen zu wollen. Damals gab es einen Zug, der täglich um Mitternacht von Sarajevo aus direkt nach Ploče an die Adriaküste fuhr. Im Sommer war dieser Zug an jedem Tag voller junger Menschen. Es war einfach eine Party im gesamten Zug. Und ich glaube, in all den Jahren auch niemals einen Schaffner gesehen zu haben. Wie sollte also jemand, der ein solch unbeschwertes Leben führt, überhaupt an etwas wie Krieg denken können? Schließlich war die Idee des Miteinanders verschiedener Ethnien keine Utopie – wir haben sie gelebt!
Die Erfahrung mit meinem Bruder in Slowenien hatte ich längst verdrängt, als ich meine erste Begegnung mit dem Krieg in Bosnien machte. In der Nacht vom 1. auf den 2. März waren mein Bruder und ich gemeinsam mit vielen Freunden in einer Disko in Sarajevo unterwegs. Plötzlich sagte ein Freund zu mir: „Ich glaube, es ist besser, wenn wir gehen. Ich bringe dich und deinen Bruder nach Hause.“ Er erklärte uns, er habe gehört, dass irgendwelche Idioten Barrikaden in der Stadt aufgestellt hätten. Er machte sich Sorgen um uns.
Mich nervt es zwar, das erklären zu müssen, aber ich möchte es sagen, damit es deutlich wird: Ich bin zwar Agnostikerin, jedoch bin in einer muslimischen Familie aufgewachsen. Der Freund, der sich um uns sorgte, war Serbe. Wir stiegen also zu ihm ins Auto und fuhren los. Tatsächlich wurden wir von Soldaten angehalten und ausgefragt: „Wo waren Sie? Mit wem? Warum?“ Die Soldaten trugen Mützen, die ich bis dato nur aus Partisanenfilmen kannte. Außerdem hatten sie schweres Gewehr dabei.
Plötzlich fragten sie nach unseren Personalausweisen. Der Freund von mir sagte, wir hätten keine dabei: „Wer trägt in Sarajevo schon seine Papiere mit sich herum?“ Er gab den Soldaten jedoch seinen Führerschein. Als sie den serbischen Namen lasen, ließen sie uns weiterfahren. Wir hatten Glück. Ich fühlte mich als sei ich aus meinem realen Leben herausgerissen und in einen Film gesteckt worden.
Erst feiert man mit seinen Freunden fröhlich und unbeschwert in einer Disko und plötzlich stehen Soldaten mit Gewehren vor dir und machen dir Angst.
Noch im Mai 1992 habe ich Sarajevo verlassen. Ich flüchtete nicht vor einem Krieg, sondern wollte eigentlich nur für kurze Zeit nach London, um dort als Au-Pair-Mädchen zu arbeiten und die englische Sprache besser zu lernen. Ich blieb einige Monate dort und zog dann 1993 nach Wien. In Österreich lebte ich bis 1997. Obwohl ich Wien wirklich in mein Herz geschlossen habe und dort ein tolles Leben führte, wollte ich unbedingt zurück nach Sarajevo. Als ich im achten Monat schwanger war, kehrte ich zurück in meine Heimat. Ich wollte, dass mein Sohn hier zur Welt kommt.

Vielleicht denken einige, dass diese Entscheidung völlig verrückt war – denn ich hätte die Papiere gehabt, um in Wien zu bleiben. Aber ich liebte Sarajevo und liebe es bis heute über alles und wusste, dass ich zurückkommen müsse. Ich hatte das Gefühl, dass Sarajevo seine Menschen brauche. Die Stadt war immer für uns alle da. Egal, welcher Ethnie man sich zugehörig fühlte. Jeder bekam eine Chance in dieser Stadt. Heute ist Sarajevo wie ein Mensch, der an einer schweren Krebserkrankung leidet. Und weil er darin so gefangen ist, jedoch nichts dafür kann, fühlst du dich ihm gegenüber verantwortlich. Du möchtest ihm helfen, wieder gesund zu werden. Und das ist auch mein Ziel.
Es gibt sowohl in Bosnien, als auch in anderen Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens, immer noch viele junge Menschen, die einfach friedlich miteinander leben wollen. Erst kürzlich gab es Proteste von Jugendlichen, die sich dafür einsetzten, dass nach Ethnien getrennte Schule wieder abgeschafft werden. Mein Sohn war mit 16 das erste Mal mit einem Freund gemeinsam in Belgrad. Als er zurückkam, sah er sehr traurig aus und ich fragte ihn, was passiert sei. Er sagte: „Ich will in Belgrad leben.“ Nachdem ich mich wunderte weshalb er das sagte, erklärte er, wie super die Menschen dort seien, dass ihn fremde Leute durch die Stadt geführt hätten und es ihm ermöglicht hätten an einem Sonntag das Stadion von Roter Stern Belgrad zu besuchen, obwohl dieses eigentlich geschlossen war. Dass sie seinen Dialekt aus Sarajevo genossen und dass auch die Frauen toll waren.
Ähnliches sagte er später über Zagreb, Ljubljana oder auch Skopje. Mein Sohn sieht keinen Unterschied zwischen ihm und den anderen. Seine Freunde sind überall auf dem Balkan verteilt und auch häufig zu Besuch bei uns in Sarajevo. Ich erzähle ihm häufig von früher und von unserem Leben damals. Ein Mal sagte er dann zu mir: „Wieso gebt ihr uns nicht einfach das Zusammenleben von damals zurück?“

Mein Märchen ist zerstört. Und deshalb möchte ich nicht, dass auch das der jüngeren Generationen zerstört wird. Wir stehen alle tief in der Schuld unserer Kinder und müssen ihnen dabei helfen, dass sie ein von nationalistischem Gedankengut freies Leben führen dürfen. Unsere Kinder sind unsere einzige reale Zukunft. Außerdem glaube ich nicht, dass die vielen Menschen, die ihr Leben als Zivilisten während des Krieges lassen mussten, es dafür ließen, dass wir heute diesen Nationalismus walten lassen. Ich für meinen Teil möchte mich reinen Gewissens vor meinen Sohn stellen und sagen können, dass ich alles für seine Zukunft getan habe.
1984 beendete ich die Schule. Seit vielen Jahren treffe ich mich ein Mal im Jahr mit meinen damaligen Schulkollegen, die selbstverständlich verschiedensten Ethnien angehören. Sie leben auf der ganzen Welt verteilt und reisen teilweise für dieses Treffen aus Kanada, Amerika oder Deutschland an. Wir treffen uns immer entweder in Sarajevo oder Belgrad. Alle empfinden eine große Verbundenhei mit ihrem Geburtsort - egal, wo sie heute leben. Der Krieg konnte uns nicht auseinandertreiben. Aber es macht mich immer noch sauer, dass er uns unser Zusammenleben genommen hat.