Anita Ermers Dadić

Nie wieder hatte ich solche Angst

Ich bin 1977 in Bosnien geboren. Seit ich drei Jahre alt war, lebten wir in Hrvatska Tisina, ein Dorf nahe der Grenze zu Kroatien. Fast alle dort waren Katholiken, meine Mutter ist orthodox, und mein Vater war wahrscheinlich der einzige Moslem. Es gab nie Probleme, wir waren überall gern gesehen. Feste wurden gemeinsam gefeiert. Es wurde zusammen gesungen, getanzt, gelacht, gegessen. Es war nicht wichtig, wer wer ist oder was. Mein Vater war überaus beliebt, und das nicht nur, weil er als Musik-Professor immer Gitarre oder Akkordeon umgehangen bekam.

Wann es anders wurde, weiß ich nicht genau. Vielleicht war ich zu jung, um die ersten Zeichen zu sehen oder richtig zu deuten. Wenn ich heute aber mein Tagebuch von damals lese, dann fällt es mir auf. Eigentlich war es ein Heft, wie es viele Mädchen in meinem Alter hatten. Mit Bildern aus Modemagazinen, aus der Bravo. Voll mit Träumen und romantischen Vorstellungen. Später wurde aus Liebe Angst. Aus Hoffnung wurden Albträume. Irgendwann war es plötzlich eine Beleidigung, Jugo genannt zu werden. Plötzlich gab es Kroaten, Serben, Muslime. Plötzlich saß in unserer Klasse ein Flüchtling aus Vukovar. Ein lieber, netter, ruhiger Junge, der uns nie erzählte, was er erlebt hat. Er schwieg darüber. Was ich im Nachhinein gut verstehen kann. Ich habe Jahre gebraucht, um über den Krieg zu sprechen, ohne in Tränen auszubrechen. Heute kann ich das, ich will nicht, das dieser Krieg vergessen wird. 

In meinem Album habe ich auch Fotos vom Konzert in der Zetra, das war damals ein großes Ereignis. Alle großen Musiker waren dabei, viele Aktivisten, auch Politiker. Es war ein klares NEIN! zum Krieg, ein Akt der Liebe und des Miteinanders. Ich war mir sicher: Jetzt wird alles gut! So viel Liebe kann nicht in Hass umschlagen. Ich habe mich geirrt. 

Irgendwann kamen immer weniger Kinder zu Schule. Meine Eltern sagten, dass ich nach der Schule immer sofort nach Hause kommen sollte. Ich spürte ihre Sorge, die Angst. Aber ich konnte es nicht begreifen. Wir saßen im Garten, in der Ferne hörten wir Granaten und Schüsse. Wir gewöhnten uns daran. Irgendwann wurden die Schüsse aber lauter und lauter. 
Es kam die Zeit, in der wir unsere Rucksäcke für die Flucht packen, wir angezogen schlafen mussten. Bis heute hasse ich diese Polyester-Strumpfhosen, die kratzen die ganze Nacht. Aber es musste sein! Denn es hieß immer öfter: Heute Nacht kommen „DIE“ und schlachten alle ab!

Irgendwann kam der Tag, als mein Vater zu meiner Mutter, mir und meiner Schwester sagte: „Ihr drei Mädels macht jetzt Ferien in Düsseldorf bei der Tante!" Nur für zwei Wochen, bis sich die Lage beruhigt habe. Papa blieb. Nur der Fluss Sava trennte uns von Kroatien. Die Nacht verbrachten wir auf der kroatische Seite, in der Stadt Slavonski Šamac bei Freunden. Und in dieser Nacht kamen "DIE"! Sie sprengten die Brücke, überall hörte man Schüsse, Granatwerfer, Explosionen. Wir standen am anderen Ufer und waren starr vor Angst, Entsetzen, Hilflosigkeit....Papa war noch dort. 

Am nächsten Tag saßen wir im Bus nach Frankfurt. Wir fuhren durch das zerstörte Kroatien, waren still und in Gedanken, ich erinnere mich nicht an viel, aber ein Halt grub sich für immer in mein Gedächtnis ein. Einer von „Denen“ kam in den Bus. Schwarz gekleidet, langer Bart, er trug dieses lange glänzende Messer an seiner Hüfte. Er lief langsam den Gang auf und ab, schaute sich alle genau an. Ich wusste, was passieren kann, ich kannte die Berichte von solchen Besuchen. Die Klinge blieb lange direkt neben mir stehen. Ich bin nicht religiös, aber zu irgendetwas habe ich immer und immer wieder gebetet. Nie wieder hatte ich solche Angst. Endlich verließ er den Bus.

Sechs Wochen später schaffte es auch mein Vater. Er hat unendlich viel Glück gehabt. In diesen sechs Wochen bin ich erwachsen geworden, obwohl ich erst 14 war. Meine kleine Schwester weinte jeden Abend. Meine Mutter wollte nur nach Hause! Aber ein Zuhause gab es nicht mehr! Ich habe nur noch mein Tagebuch und ein paar Fotos. Keine Geburtsurkunde, keine Schulzeugnisse. Wir wurden unserer Identität beraubt. 

Zunächst durften meine Eltern nicht arbeiten. Später arbeitete mein Vater auf dem Bau, meine Mutter als Putzfrau. Sie wollten sich ein neues Leben aufbauen. Doch 1998 wurde die Aufenthaltsgenehmigung für unsere Familie nicht verlängert. Man stellte sie vor die Wahl "freiwillig" nach Bosnien zurück zu kehren, auf jeden Fall aber sollten sie das Land verlassen. Ich war inzwischen verheiratet und blieb in Deutschland, meine Eltern und meine Schwester wanderten in die USA aus, wo sie bis heute leben. Als sie gingen, habe ich erneut meine Heimat verloren.

Wie geht's mir heute? Meine Familie ist groß und in der Welt verteilt. Ich wurde als Jugoslawin geboren, das bin ich, das bleibe ich. Obwohl ich heute Bosnierin bin. Mein Pass ist mittlerweile deutsch, und ich habe viele „deutsche Eigenschaften", aber mein Herz und meine Seele sind vom Balkan. Es gibt Dinge, Gefühle, die nur wir Balkanesen verstehen und fühlen. Wenn ich heute an der Adria bin, fühle ich mich immer noch zuhause. Obwohl man mir dann klar machen will, dass es nicht mein Land ist.

Ich habe mir trotz allem bewahrt, die Menschen NICHT nach Nationalität, Religion oder Hautfarbe zu unterscheiden. Ich teile immer noch in GUT und BÖSE ein. Ich empfinde Hass! Sehr, sehr tiefen schwarzen Hass all denen gegenüber, die an dem Krieg beteiligt waren. Ich werde nie vergessen und niemals verzeihen. Aber ich gebe nicht einem ganzen Volk die Schuld.

Wenn ich heute höre, wie abfällig manche Menschen über die Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien reden, macht mich das wütend. Kein Kriegsflüchtling kommt aus Spaß oder weil er sich in Deutschland in die soziale Hängematte legen möchte. Man kommt hierher, weil man um sein Leben fürchtet und weil es das Einzige ist, was man noch hat.

Ich war nur noch einmal in Hrvatska Tisina. Mein Vater wollte sehen, was aus unserem Haus geworden ist. Dort, wo es einmal gestanden hat, gibt es heute eine Postfiliale. An die Familie Dadić erinnert in der Straße nichts mehr.