Was können wir aus ZETRA lernen?

Zum Abschluss des Crowdsourcing-Projekts ZETRA: Wir haben von Euch viele Antworten bekommen, aber jetzt sind da noch mehr Fragen. Gerade nach einem Jahr wie 2016. Was bedeutet es, dass so viele Menschen damals gegen den Krieg waren? Ist es wirklich ein Zeichen von Hoffnung – oder doch eher der Ohnmacht? Am Ende reduziert sich alles auf die Frage: Was tun?

Das ZETRA-Projekt startete am 28. Juni 2016. Fünf Tage, nachdem die Mehrheit der britischen Wähler dafür gestimmt hatte, aus der EU auszutreten. Gut vier Monate, bevor der amerikanische Unternehmer und Reality-TV-Star Donald Trump die Wahl zum US-Präsidenten gewann.

Unsere Welt heute sieht anders aus als im Juni. Ereignisse sind eingetreten, die niemand in unserer Filter-blase für möglich gehalten hätte, bevor sie Wirklichkeit wurden. Wir sehen, wie eine jahrzehntelang eingeübte Diskurskultur vor die Hunde geht, wie sich – nicht nur – im Internet der Hass Bahn bricht, wie Dinge sag-bar werden, die nicht sagbar waren. Und heute werden sie nicht nur gesagt, sie werden öffentlich verkündet.

Und wir staunen, wie schnell wir uns an all diese Veränderungen gewöhnen, wie sehr wir uns geradezu da-nach sehnen, so zu tun, als sei diese neue Realität in irgendeiner Form normal. Denn das hieße, dass auch dieses Mal alles gut gehen wird. Ist ja immer alles irgendwie gut ausgegangen in Deutschland in den vergangenen 70 Jahren.

Wird schon alles gut gehen. Oder?

Wir sehen, wie wir Journalisten damit überfordert sind, einen neuen Ton zu finden in der Berichterstattung, wie die Medien schwanken zwischen Sensationalismus, Moralapostelei und doch wieder business as usual und damit immer mehr Bürger an Verschwörungstheoretiker verlieren. Wir beobachten, dass weder Konservative noch Liberale noch Linke einen Schimmer haben, wie sie den aufstrebenden Rechtspopulisten Paroli bieten können – oder auch nur, wie sie mit deren Anhängern ins Gespräch kommen können. Wir wissen ja selbst nicht recht, was wir tun sollen. Wird also schon alles gut gehen. Oder?

Noch im vergangenen Winter hatte keiner von uns jemals von dem Konzert in der ZETRA-Halle am 28. Juli 1991 gehört. Und damit natürlich auch nicht gewusst, dass die Menschen im damaligen Jugoslawien von den Kriegen in ihrem Land überrascht wurden. Wir hatten nicht gewusst, wie viele Serben, Bosniaken und Kroaten sich für den Frieden eingesetzt hatten – und wie viele das weiterhin taten, selbst als diese Kriege bereits tobten.

Uns ging es wie den meisten, die nicht selbst unter diesen Kriegen gelitten hatten. Wir gingen davon aus, dass der “Jugoslawien-Konflikt” kaum aufzuhalten und der sehr alte Hass zwischen den verschiedenen Ethnien viel zu mächtig gewesen sei. Ein Hass, den Titos Regime mühsam in Schach gehalten habe, bis er nach dem Zerfall dieses Regimes wieder eskaliert sei. Diesen Glauben hatten wir alle verinnerlicht, jede und jeder von uns, auch diejenigen, deren eigene Familien aus Bosnien oder Kroatien stammten.

Konnte es wirklich sein, dass Gewalt gewinnen kann, auch wenn die Mehrheit der Menschen diese Gewalt fürchtet und ablehnt?

Und selbst als wir die Bilder aus der ZETRA-Halle zum ersten Mal sahen, uns über die Friedensdemonstrationen in Belgrad, Zagreb und Sarajevo und vielen kleineren Orten informierten, selbst als wir erfuhren, mit wie viel Gewalt diese Bürger von ihren eigenen Armeen zum Schweigen gebracht worden waren, erwischten wir uns bei Zweifeln: Konnte es wirklich sein, dass unser Geschichtsbild so verzerrt war? Dass die Menschen auf dem Balkan uns Menschen heute in Deutschland so viel ähnlicher waren, als wir uns das jemals hätten vorstellen können? Dass Gewalt gewinnen kann, auch wenn die Mehrheit der Menschen diese Gewalt fürchtet und ablehnt? Im Frieden und Wohlstand aufgewachsen schien uns ein solcher Gedanke nicht nur fremd, er machte uns Angst. Auf einmal waren es nicht mehr “die anderen”, die es erwischt hatte, sondern ganz normale Menschen, mit mehr oder weniger politischem Interesse, mehr oder weniger Alltagssorgen, mehr oder weniger Verständnis für die Gegenseite. Menschen wie wir eben.

Je mehr wir darüber nachdachten, desto klarer wurde uns damals: Das ZETRA-Projekt würde nicht den Weg der klassischen Recherche gehen. Das wäre natürlich ebenfalls möglich und sicher auch interessant gewesen. Wir entschieden uns lieber dafür, einen virtuellen Ort zu schaffen, an dem sich die Menschen von damals wiederfinden konnten, anderen und sich gegenseitig von damals und heute erzählen und so wieder miteinander ins Gespräch kommen würden. Wir wollten eine Plattform bauen, die Platz bieten würde für die Version der Geschichte der Einzelnen.

“Wir waren so naiv.”

Das haben wir mit www.zetraproject.com gemacht. Und viele Menschen haben sich gemeldet und berichtet, wie sich das damals für sie angefühlt hat. Jeder, der seine Geschichte erzählt hat, hat unser Weltbild ein bisschen ins Wanken gebracht. Denn keine Geschichte gleicht der anderen. Nur einen Satz haben fast alle auf die eine oder die andere Art formuliert: “Wir waren so naiv.” Auch sie haben damals also geglaubt, dass es nicht sie treffen werde, dass es schon irgendwie gut gehen werde. Es sind aber eben nicht immer “die anderen”, die in der falschen Zeit und am falschen Ort leben. Unter jedem Konflikt auf dieser Welt leiden ganz normale Menschen, die sich “vorher” auch nie das “nachher” vorstellen konnten und wollten.

Aber nicht nur diejenigen, die sich gemeldet haben, haben uns etwas mitgeteilt – auch die, die sich dagegen entschieden haben. Auf www.zetraproject.com äußern sich fast nur Männer und Frauen, die Anfang der 1990er Jahre sehr jung waren, viele, die damals noch halbwegs rechtzeitig ihre Heimat verlassen haben und in ein anderes Land geflüchtet sind, und keiner, der in den Wirren des Kriegs selbst Schuld auf sich geladen hat. Wir haben also nicht erfahren, wie aus Menschen, die nur friedlich ihr Leben leben wollten, Kämpfer werden konnten, die ihre Gegner unerbittlich attackierten. Dass das unmöglich sein würde, wussten wir vor-her: Die Wirklichkeit vieler Lebensgeschichten ist zu komplex für das Crowdsourcing-Format, das wir gebaut haben. Wir haben einen Ausschnitt der Geschichte gezeigt, den viele, wir selbst eingeschlossen, vorher nicht kannten. Dafür wollen wir heute allen “Danke!” sagen, die sich bei uns gemeldet haben, denen, die ihre Geschichten erzählt haben, und denen, die sie gelesen und geteilt haben. Denen, die uns gesagt haben, dass sie durch diese Geschichten auf einmal anders mit ihren Eltern ins Gespräch gekommen sind über das, was damals geschehen ist, aber auch denen, die mit uns streiten wollten.

Was bedeutet es denn, dass so viele Leute damals gegen den Krieg waren? Ist das wirklich ein Zeichen von Hoffnung – oder doch eher der Ohnmacht?

Das Crowdsourcing-Projekt ZETRA ist zu Ende. Und wir haben heute ein paar Fragen mehr als vorher.
Wenn wir am Ende des Jahres 2016 und wenige Tage vor Weihnachten noch mal zurückschauen, merken wir, dass wir wahrscheinlich verwirrter sind als vor einem Jahr. Und nicht nur, aber auch wegen ZETRA: Wie es zu einem Krieg kommen konnte, den kaum einer wollte, wissen wir immer noch nicht. Und wir wissen auch nicht, wie er zu verhindern gewesen wäre. Was bedeutet es denn, dass so viele Leute damals gegen den Krieg waren? Ist das wirklich ein Zeichen von Hoffnung – oder doch eher der Ohnmacht? Wie kann es sein, dass in Bosnien gerade in diesem Jahr nationalistische Kräfte wieder auf dem Vormarsch sind? Vor allem aber: Was können wir dafür tun, um die Welt, wie wir sie kennen, zu bewahren und zu verbessern? Wenn alles gut geht, werden die Warner von heute als hysterische Kassandras verunglimpft werden. Aber hey, das wäre doch echt kein großes Opfer, oder?

Am Ende reduziert sich alles auf die Frage: Was tun?

Wir würden gerne etwas tun. Ein anderer Satz, den die Menschen, die ihre Geschichte auf ZETRA geteilt haben, ebenfalls in vielen Variationen gesagt haben, lautet: “Es fing damit an, dass wir aufhörten, miteinander zu reden.” Jemand, mit dem man nicht mehr reden kann – das muss der Gegner sein. Und das ist genau das, was wir im Hier und Heute wieder beobachten. Das muss zu keinem Krieg führen, aber es ist das Ende von etwas und der Anfang von etwas anderem, das nichts Gutes bedeutet. Was es bedeuten kann, dieses Wissen verdanken wir allen, die ihre Geschichten geteilt haben.

Unser Aufruf endet also – mit einem neuen Aufruf. Können wir die ZETRA-Geschichten aus der Vergangenheit nutzen, um uns im Heute etwas über die Zukunft beizubringen? So, wie es Karla Hajman beschrieben hat: Sind die Menschen, die den letzten großen europäischen Krieg erlebt haben und wissen, wie es dazu kam, eine Art europäische Immungedächtniszellen? Haben sie gelernt, wie man gesellschaftliche Krankheiten so bekämpft, dass sie nicht zum Ausdruck kommen? Was denkt Ihr? Mailt uns an info@zetraproject.com oder kommentiert auf Facebook: www.fb.com/zetraproject.

Das denkt das ZETRA-Team:

Carolyn Braun, ZETRA Projekt

Carolyn Braun:
Ein Satz, den die Menschen, die ihre Geschichte auf ZETRA geteilt haben, in vielen Variationen gesagt haben, lautet: “Es fing damit an, dass wir aufhörten, miteinander zu reden.” Jemand, mit dem man nicht mehr reden kann – das muss der Gegner sein. Und das ist genau das, was wir im Hier und Heute wieder beobachten. Das muss zu keinem Krieg führen, aber es ist das Ende von etwas und der Anfang von etwas anderem, das nichts Gutes bedeutet. Was es bedeuten kann, dieses Wissen verdanken wir allen, die ihre Geschichten geteilt haben.

Deana Mrkaja, ZETRA Projekt

Deana Mrkaja:
Mit dem ZETRA-Projekt verbinde ich Alma, Jadranka, Hajrudin, Tatjana, Naser und einige Menschen mehr, die mir – einer Person, die ihnen völlig fremd war – ihre persönliche Lebensgeschichte erzählten. Doch weder die Fremde noch die Hunderte Kilometer zwischen uns, hinderten uns daran, einander auf einer bildhaft entblößten und vorurteilsfreien Gefühlsebene zu begegnen, die nur Raum für Menschlichkeit ließ – so weinten wir miteinander, wir lachten, wir fanden heraus, dass die Großeltern sich gekannt haben, und beschlossen, bei der nächstmöglichen Gelegenheit gemeinsam einen Kaffee zu trinken. Obwohl ich all unsere Protagonisten vorher nicht kannte, verstand ich sie auf An-hieb. Ich verstand, woher sie kommen, wer sie waren, ihre Redewendungen und ihren Humor, ich verstand, was sie meinten, wenn sie von Heimat sprachen. Ich sagte mir, das müsse diese besondere Nähe sein, die man Menschen gegenüber empfindet, mit denen man eine Geschichte, eine Kultur teilt.

Das ZETRA-Projekt lehrte mich nicht nur noch einmal mehr, was Empathie bedeutet, sondern auch den Frieden, in dem ich – im Gegensatz zum Großteil meiner Familie – aufwachsen durfte, mehr zu schätzen, als ich das jemals zuvor getan hatte. Denn dieser ist weder sicher, noch selbstverständlich und gerade weil er eher von fragiler Natur ist, sollte er stets geschätzt und gegen ihn negativ beeinflussende Kräfte friedlich verteidigt werden.

Das ZETRA-Projekt brachte mich gedanklich auch zurück in den Garten meiner Großeltern in Sarajevo. Ein Garten, den ich als Kind als einen der reichsten Gärten überhaupt empfand. Alles, was man sich wünschte, wuchs dort, und von dem kleinen Hügel aus auf dem er sich befand, konnte man die gesamte Stadt überblicken. Vor allem jedoch repräsentierte er für mich Heimat und Familie. Mit dem Krieg zerbrach auch das perfekte Bild dieses Gartens. Vieles hat sich verändert. Doch unsere Protagonisten haben mir gezeigt, dass es trotz vieler schlechter Kräfte noch immer Hoffnung gibt.

Ich freue mich darüber, dass sich Menschen, die kaum unterschiedlicher sein könnten, zusammengefunden haben, um dieses tolle Projekt gemeinsam zu verwirklichen. Ein Projekt, bei dem es darum ging, echte Geschichten zu erzählen, die nicht näher an den Menschen dran sein könnten – Geschichten, die es allesamt wert waren, erzählt zu werden.

Mateo Topalović, ZETRA Projekt

Mateo Topalović:
Woran lässt sich der Erfolg eines solchen Projektes messen? Als jemand, der mit den Organisatoren mitgearbeitet hat und sämtliche Reaktionen unserer Leser mitverfolgen konnte, kann ich nur sagen: ein Riesenerfolg! Man hat es mit diesem Projekt geschafft, denjenigen eine Stimme zu geben, die die Frage „Wieso bricht ein Krieg aus, den niemand will?“ nicht beantworten können, da sie ihn nicht wollten. Man hat diesen Menschen endlich eine Stimme gegeben und zu Wort kommen lassen, da sie seit dem Zerfall Jugoslawiens 1991 und 1992 niemand fragte: Wollt ihr Krieg? Wollt ihr Leid und Tod, Zerstörung, Armut und Elend? Das Projekt hat es geschafft, vor der Welt zu zeigen, dass wir Balkanvölker (und da zähle ich mich als Sohn von Flüchtlingen aus BiH dazu) nicht geboren werden, um einander zu töten, sondern in Ruhe und Frieden mit meinen serbischen, kroatischen und bosniakischen Nachbarn zu leben.

Azer Slanjankić, ZETRA Projekt

Azer Slanjankić:
„Ein Krieg in Bosnien? Niemals! Unmöglich!“, haben wir alle gedacht während wir zu Friedensdemonstrationen in meiner Heimatstadt Tuzla zusammengestanden haben. Wer waren „wir“? „Wir“ waren die Einwohner von Tuzla. Ich hatte den Eindruck, die ganze Stadt war da. Und mitten drin in dieser Masse von Menschen, war meine Clique, mit fester Überzeugung: „Keiner von uns wird auf seinen Freund schießen! Nie im Leben!“

Doch. Nur ein paar Monate später standen viele von uns einer gegenüber dem anderen. Mit Gewehren in den Händen. Keiner hat uns nach unserer Meinung gefragt. Die Flut kam und hat uns überrollt und mitgezogen.

Ein Vierteljahrhundert später. Ich arbeite als Journalist für die Deutsche Welle in Bonn. Oft beschäftige ich mich mit dem Thema „Krieg in Bosnien“. Obwohl ich selbst zahlreiche Interviews und Beiträge zu diesem Thema selber gemacht habe, habe ich nie eine überzeugende Antwort auf eine Frage bekommen: „Warum brach der Krieg, den keiner wollte, aus?“

Wer heute nicht für Frieden kämpft, der kämpft morgen im Krieg.

Als ich von dem ZETRA-Projekt erfahren habe, war mir sofort klar, dass ich mitmachen möchte. Es ging um die Suche nach der „überzeugenden Antwort“. Es war erstaunlich, dass dieselbe Frage viele Menschen noch immer „quält“. Nachdem ich viele Beiträge meiner Landsleute gelesen habe, ist mir klar, dass ich diese Antwort nicht bekommen habe. Aber, es tut so gut, wenn man weiß, dass man nicht alleine ist auf dieser Suche, dass es viele, viele Menschen gibt, die sich gleich fühlten – damals, während sich der Krieg in unsere Richtung wälzte, und heute, wenn er uns längst überrollt hat und viele Narben hinterlassen hat.

Diese Suche soll weiter gehen. Nicht nur wegen vielen Menschen, die ihre Leben verloren haben, nicht nur wegen der „Clique“ aus Tuzla, die sich nach dem Krieg getroffen hat und mit einem Lächeln und gutem Ge-wissen gegenseitig in die Augen geschaut hat (weil wir wissen, was wir damals und heute meinen), sondern auch wegen denen, die Krieg nie erlebt haben und nicht wissen, dass man auch für den Frieden kämpfen muss. Wer heute nicht für Frieden kämpft, der kämpft morgen im Krieg.

„Nie wieder Krieg in Europa!“, hört man oft heute. Mir klingt es irgendwie bekannt.

Danijel Višević, ZETRA Projekt

Danijel Višević:
Serben, Kroaten und Bosniaken hassen einander seit Jahrhunderten, daher war es nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Balkan-Völker wieder bekämpfen. In diesem Satz steckt so viel Bullshit, doch als 1991 der Krieg in Jugoslawien ausbrach, glaubte ich, wie so viele Menschen, genau das. Und ich glaubte es bis ins Jahr 2016 hinein - bis ich auf das Video vom Friedenskonzert in der ZETRA-Halle stieß.

Jetzt, nachdem die erste Phase des ZETRA-Projekts abgeschlossen ist, wir mehr als vierzig Geschichten zusammengetragen haben und ich mich ausgiebig mit der Friedensbewegung und dem Krieg befasst habe, ist es mir sehr unangenehm, so über die Menschen in Ex-Jugoslawien gedacht zu haben. Doch ich bin nicht der einzige, der es sich leicht gemacht hatte bei der Antwort auf die Frage: Warum kam es zum Jugoslawienkrieg?

Es ist verführerisch einfach, einen Hass zwischen Völkern als Kriegsursache aufzuführen. Eine Verführung, der auch der amerikanische Journalist Robert Kaplan erlag, als er 1993 “Balkan Ghosts” veröffentlichte. Sein Buch wurde das Standardwerk für eine Erklärung des Kriegs. “Ancient hatred” ist der Begriff, der für Kaplan von zentraler Bedeutung ist, historischer Hass zwischen Völkern.

Die neuere politische Wissenschaft hat “ancient hatred” als Grund für die Jugoslawien-Kriege ausgeschlossen, dieser Hass spielt als Kriegsursache höchstens eine untergeordnete Rolle (wichtiger Einschub: dass Hass kurz vor Ausbruch eines Krieges geschürt werden kann und im Krieg weiter wächst, steht außer Frage, und dass er am Ende eines Krieges nicht verschwindet ebenso. Als erklärende Ursache dient er aber nicht). Die wahren Gründe für den Jugoslawienkrieg sind vielfältig und wir müssen uns mit ihnen befassen, denn sie zu verstehen, lässt uns auch die Entwicklung, die unsere Welt derzeit erfährt, sensibilisiert beobachten. Stichworte: Brexit, Trump, Nationalismus.

Nur so lassen sich Kriege vermeiden: indem wir uns unseren Ängsten stellen.

Das ist es vor allem, was die Geschichten des ZETRA-Projekts in mir bewirkt haben: eine Sensibilisierung für das, was heute geschieht. Aus der Friedensbewegung in Jugoslawien und dem Krieg, der dennoch folgte, können wir Wichtiges lernen. Vor allem: dass ein Krieg ausbrechen kann, obwohl kaum jemand mit ihm rechnet und fast alle dagegen sind. Dass zum Beispiel das Schüren von Hass dazu führen kann. Doch warum fällt das Schüren von Hass (nicht nur) in Europa seit 2015 wieder auf solch fruchtbaren Boden?

Hass ist oftmals eine Folge von Angst: Angst davor, etwas verlieren zu können. Wohlstand zum Beispiel. Oder die Angst vor dem Fremden, den ich nur aus Horror-Geschichten kenne, die ich auf Facebook gelesen habe oder auf Webseiten mit zweifelhaftem Ruf. Angst lässt sich nur besiegen, indem ich dem begegne, vor dem ich mich fürchte. Zum Beispiel einem Flüchtling.

Vor knapp zwei Jahren haben meine Familie und ich eine Flüchtlingsfamilie aus Syrien kennengelernt. Über sie auch zahlreiche andere Flüchtlinge. Es sind Menschen mit Freuden und Sorgen wie Du und ich. Ja, wir haben unterschiedliche Geschmäcker, Meinungen, die meisten der syrischen Frauen tragen ein Kopftuch. Doch wir begegnen einander regelmäßig, bauen Vertrauen und Brücken zueinander auf. Wir sind Freunde geworden, die einander schätzen und achten.

Nur so lassen sich Kriege vermeiden: indem wir uns unseren Ängsten stellen. Das ist nicht einfach. Aber es geht.

Marcus Pfeil, Redakteur ZETRA Projekt

Marcus Pfeil:
Ich kannte die Geschichte von Mostar, wusste vom Massaker in Srebrenica. Und hätte auch ungefähr sagen können, wer während der Jugoslawienkriege wann gegen wen gekämpft hat. Besonders berührt hat mich dieser Krieg als Teenager aber nicht. Ich wusste nicht, dass es eine so starke Friedensbewegung gab, in Sarajevo, in Belgrad, auch in den Dörfern. Ich kannte keine Opfer. Und bis ich Teil von ZETRA wurde, konnte ich auch nicht die Parallelen zum Europa von heute erkennen. Heute ist mir bewusster, wie unbedeutend 70 Jahre Frieden historisch betrachtet eigentlich sind, und alles, nur keine Selbstverständlichkeit. Wie schnell Hass gesät und Krieg geerntet wird, wenn Menschen aufhören, miteinander zu reden, sich zu streiten, sich zu verstehen. Auf einmal frage ich mich, ob wir in einer Nachkriegszeit oder doch in einer Vorkriegszeit leben könnten. Karla, eine derer, die sich bei uns gemeldet haben, hat gesagt, die Menschen aus Ex-Jugoslawien sind die letzten lebenden Immunzellen, die Europa vor einem Krieg beschützen können. Wenn sie recht hat, dann sollten wir Europa schleunigst damit impfen.

David Holfelder, ZETRA Projekt

David Holfelder:
Als Danijel mir von seiner Idee des ZETRA-Projekts erzählte und ich das erste Mal die Geschichte der ZET-RA-Halle hörte, war ich sehr berührt. Ich konnte kaum glauben, wie schicksalhaft die Geschichte der Halle ist. Um so mehr hat mich gewundert, wie unbekannt sie ist – nicht nur für mich. Als ich das Video des Friedenskonzerts von 1991 sah, wurde mir zum ersten Mal wirklich klar: die sind wie ich; unter anderen Umständen hätte auch ich auf diesem Konzert sein können.

Je mehr Videos ich von damals sah, desto näher kamen mir die Jugoslawienkriege.

Damals war ich noch ein Kind und verstand nicht wirklich, was da passierte. Noch bis kurz vor dem Projekt war ich der Auffassung, dass in Jugoslawien so unterschiedliche Volksgruppen mit uralten, unüberbrückbaren Feindschaften lebten, dass ein Krieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unausweichlich war. Erst so langsam verstehe ich wirklich, dass es Menschen wie du und ich waren. Diese Menschen wollten den Krieg zum allergrößten Teil nicht und haben auch nicht geglaubt, dass er ausbrechen könnte. Und je näher mir das kommt, desto mehr Parallelen sehe ich zu Heute. Überall gewinnen Rechtspopulisten an Macht und vom europäischen Gedanken eines Miteinanders und dem Gefühl von Aufbruch ist schon jetzt nicht mehr viel übrig. Ich glaube nicht, dass wir kurz vor einem Krieg stehen, aber durch meine Beschäftigung mit den Jugoslawienkriegen macht mir die aktuelle Entwicklung noch mehr Angst.