Boris Šiber
“Es ist nicht wahr, dass wir einander hassen und uns an die Gurgel wollen!”
Boris Šiber gehörte zur bekanntesten Comedy-Gruppe Jugoslawiens, die “toplista nadrealista” (“Hitparade der Surrealisten”). Die Gruppe bestand aus Serben, Kroaten und Bosniern - bis der Krieg sie trennte. Heute ist er Chefredakteur des bosnischen Kinder- und Jugendfernsehens. Denkt er an die Friedensbewegung im ehemaligen Jugoslawien, erinnert er sich an absurde Szenen.
Mindestens 90 Prozent der Menschen des Landes, das mal Jugoslawien hieß, wollten keinen Krieg. Das kann ich versichern. Die, die den Krieg wollten, das war nur eine Handvoll Menschen. Doch leider wussten sie, wie man einen Krieg plant, und sie hatten auch die dafür nötigen finanziellen Mittel. Sie besaßen die Mittel, die man braucht, um Menschen Angst einzujagen, Angst voreinander. Medien und weitere Mittel der Manipulation.
Im Gegensatz zu denen, die den Krieg wollten, entstand die Friedensbewegung aus dem tiefen Bedürfnis der Menschen heraus, deutlich zu sagen: „Nein, es ist nicht wahr, dass wir einander hassen und uns an die Gurgel wollen!“ Viele Kundgebungen gab es, Proteste, Konzerte, kulturelle Veranstaltungen jeglicher Art mit der einen klaren Botschaft: Wir wollen in Frieden miteinander leben!
Freunde von mir sind für solche Veranstaltungen aus Zagreb, Belgrad oder Mostar nach Sarajevo gekommen, wie eben zum Beispiel auf das Konzert in der ZETRA. Diese Botschaft musste einfach raus aus den Leuten: Frieden! Ganz gleich ob Schauspieler, Musiker, Künstler oder einfach nur Mensch. Viele junge Menschen haben ihre Stimme erhoben, in der Hoffnung, mit ihren Liedern, Bildern oder Gedichten etwas bewirken zu können. Leider ist uns das nicht gelungen.
Dubrovnik brennt
Dass ein Krieg ausgebrochen ist, habe ich drei Monate später durch die Bilder vom Beschuss Dubrovniks verstanden. Meine Schwester rief mich aus London an, kurz vorher war sie dorthin gezogen. Sie rief an und weinte. Was denn los sei, fragte ich, doch sie schluchzte nur und konnte nicht sprechen. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, sagte sie: Brüderchen, hast du es denn nicht in den Nachrichten gesehen? Dubrovnik brennt.
Eigentlich hätte ich viel früher nachdenklich werden müssen, denn unser Vater war ein hochrangiger Offizier in der Jugoslawischen Volksarmee. Er arbeitete in Belgrad und sollte zum General befördert werden. Doch er wollte das nicht, er wollte zurück nach Sarajevo. Ihm wurde gesagt, dass er hier nur für die Territorialverteidigung arbeiten könnte, doch das war meinem Vater egal, er wollte einfach nur zurück und bei uns sein, bei seiner Familie.
Da wusste ich: Bald kommt der Krieg auch zu uns.
Im Januar 1992 machte ich mit Freunden eine Tour durch die Sahara. Der Krieg in Kroatien war zu diesem Zeitpunkt fast schon wieder vorbei. Aus Niger rief ich zu Hause an und fragte meinen Vater, wie die Lage in Bosnien und Sarajevo ist und wie es allen geht. Seine Antwort klingt mir noch heute in den Ohren, denn er sprach, wie er nie vorher und nie nachher mit mir gesprochen hat, ungefähr so: “Ja, ja, alles gut, gut hier, nichts Neues gibt es hier, alles okay, voll okay. Brauchst du Geld? Bleib wo du bist, solange du magst! Bleib nur, wo du bist, wir schicken dir Geld.” Da wusste ich: Bald kommt der Krieg auch zu uns. Wir kehrten so schnell wie möglich zurück nach Sarajevo.

Die surrealsten Szenen meines Lebens ereigneten sich am 5. April 1992, der Tag, an dem der Krieg Sarajevo erreichte. Wir demonstrierten vor dem Parlament - für Frieden, mal wieder - es regnete leicht, und plötzlich beginnen sie zu schießen auf uns aus dem Hotel Holiday Inn gegenüber. Wir flohen ins Parlamentsgebäude, stiegen hinauf in den ersten Stock und versteckten uns hinter bodentiefen Fenstern, die natürlich keinerlei Schutz boten. Und durch dieses Glas sehe ich unten mitten auf dem nun eigentlich menschenleeren Platz einen Bergarbeiter, der die Fahne der Bergarbeiter schwenkt, ganz alleine steht er da, und keiner wagt es auf ihn zu schießen.
Und dann die nächste surreale Situation: Ich schaue nach unten und sehe, wie sich einer hinter einem Gebüsch versteckt, etwa fünfzig Jahre alt, bewaffnet mit einer Kalaschnikow, er trägt Tarnklamotten und neue, leuchtend weiße Turnschuhe. Er schaut immer wieder aus diesem Gebüsch hervor und hält die Waffe nach unten. Vermutlich war sie entsichert und er hat den Abzug berührt und prrrrrr, schießt er auf seine eigenen Füße. Er schreit und jammert und zieht sich die Schuhe aus, sie haben mehrere Löcher. Zwei Männer kommen und bringen ihn weg. Dann kommt noch einer, nimmt sich das Gewehr und geht. Es blieben nur noch diese zerlöcherten, blutgetränkten, weißen Schuhe da liegen.
“Damit das Böse siegt, reicht es, dass wir nichts tun.”
Ein schlauer Mensch hat mal gesagt: “Damit das Böse siegt, reicht es, dass wir nichts tun.” Wir müssen also aktiv werden, um Kriege zu verhindern. Es muss ja nicht viel sein, was wir tun, es reicht, wenn wir klar unseren Standpunkt vertreten. Wenn wir nicht schweigen, sondern unseren Mund aufmachen.
Ich wünsche mir, dass wir begreifen, dass die Probleme im Irak, in Libyen, in Syrien oder wo auch immer auf der Welt auch unsere Probleme sind. Wir leben auf so einem kleinen Planeten und wir werden immer mehr Menschen. Wir sind vernetzt und hängen doch alle voneinander ab. Wenn wir eines Tages begreifen, dass wir alle eins sind, wird uns Vieles von selbst klar werden und wir werden wissen, wie wir Probleme, die wir in der Vergangenheit hatten, lösen können.