Eleonora Birsl-Jung

„Nationalismus ist wie Sepsis“

Eleonora Birsl-Jung ist mit 19 Jahren aus Sarajevo geflohen. Heute arbeitet sie als Kinderkrankenschwester in Bremen. Ihre Spezialgebiet: die Pflege von Wunden.

Ich bin 43 Jahre alt, ich lebe mit meinem Mann und meinen beiden Kindern in einem Reihenhaus mit Garten in Bremen. Ich bin Kinderkrankenschwester, habe mich auf Wundpflege spezialisiert. Als ich 1994, mit 21, das erste Mal nach Deutschland kam, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass mein Leben einmal so ausschaut.

Ich bin in Sarajevo geboren, auch meine Mutter und Großmutter stammen aus Sarajevo. Mein Vater ist Kroate. Das war bei uns nie ein Thema. Mein Vater, Ingenieur von Beruf, fühlte sich immer als Kroate, meine Mutter war Geschichtsprofessorin, Atheistin und Kommunistin, wir hatten viele muslimische Freunde, Nachbarn, Verwandte.
Wir gehörten einer privilegierten Schicht an, obwohl ich damals dachte, dass alle so lebten. Meine Jugend war ganz ähnlich wie die meines deutschen Mannes: Ich habe Levi's 501 getragen wie er. Allerdings hatte ich nur ein Paar, nicht drei. Und wir haben die gleiche Musik gehört, auch wenn ich Michael Jackson liebte und er eher auf Punk stand.

Auf dem Konzert in der ZETRA war ich nicht, da durfte ich nicht hin. Natürlich wäre ich gern gegangen, aber ich war ein Mädchen, ich war zu jung, und meine Eltern hielten das ganze sowieso für eine Propagandashow. Wieso sollte es Krieg in Bosnien geben? Die Veranstalter wollten nur Geld machen mit der Angst der Menschen, glaubten sie. Diesen Sommer hatte ich mit meinen Freunden in unserem Ferienhaus in Kroatien am Meer verbracht. Ein unvergesslicher Sommer, wie er nur möglich ist, wenn man 18 ist. Wir tranken zusammen aus einer Flasche Wein, rauchten eine Zigarette, teilten den letzten Dinar, sangen die jugoslawische Hymne nachts auf leeren Straßen, wir verliebten uns ineinander, ohne zu wissen, wer Kroate, Moslem, Serbe oder Jude war. Einer hieß Zoran, der andere Adnan, und wir wussten nicht, was das bedeutet.

Meine Eltern hielten das ZETRA-Konzert für eine Propagandashow. Wieso sollte es Krieg in Bosnien geben?

Viele Jahre später habe ich meinen Eltern den wutgeballten Vorwurf gemacht, warum sie nichts getan hätten, um diesen Krieg zu verhindern. Das waren doch Intellektuelle, ganz helle Geister. Und sie haben gesagt: Wir haben es einfach nicht glauben können, dass "das" die Überhand gewinnen kann - bis es zu spät war. Das ist etwas, was ich meinen Kindern beibringen will: Nationalismus ist eine Krankheit, genau wie Sepsis. Wenn man das nicht rechtzeitig aufhält, bricht es durch und ist nicht mehr zu stoppen. Deswegen muss man prophylaktisch handeln.

Ich war im vierten Semester meines Soziologie-Studiums, als der Krieg anfing, am 6. April 1992. Unser Haus war etwa 200 Meter entfernt von der Grenzlinie, die auf einmal mitten durch unser Viertel verlief. Plötzlich standen da bewaffnete Barrikaden - in meiner Straße.

Ich stamme aus einer Gegend in Sarajevo, in der größtenteils Serben lebten. Das waren meine Freunde, wir sind zusammen aufgewachsen. Ich konnte damals schon spüren, dass sie eine enorme Angst vor Moslems hatten, ich kann mich an die Gespräche erinnern, in denen es darum ging, dass "sie" kämen, um "uns" umzubringen, dass die "grünen Mützen" überall seien. Verstanden habe ich das damals nicht, ich selbst hatte keine Angst. Ich kann mich erinnern, wie ich unter der Klappcouch meiner besten Freundin mehrere Bazookas gesehen habe, und ich fragte sie: "Wozu braucht Ihr das?" Und sie antwortete: "Um uns schützen zu können, falls wir angegriffen werden." Und ich dachte: Hallo? Ich war 19, ich machte mir Sorgen um meine Frisur, meine Prüfungen, was war denn da los?

Als die Kämpfe begannen, sind meine bosnischen und meine serbischen Freunde zu mir gekommen, haben uns einen Sack Essen gebracht, sie haben mit mir dagesessen und geredet und viel geweint. Die Waffen standen neben ihnen. Das waren Jugendliche, genau wie ich.

Am 17. April 1992 sind meine Schwester und ich mit dem letzten Zug aus Sarajevo rausgefahren. In unserem Ferienhaus in Kroatien sollten wir warten, bis der Krieg vorüberginge. Unsere Eltern blieben in Sarajevo. Drei Monate lang hatten wir keinen Kontakt zu ihnen. Damals hat eine Nachbarin herumerzählt, dass meine Mutter, die Serbin, meinen Vater, den Kroaten, umgebracht habe. Aber ich habe nicht eine Sekunde lang an meinen Eltern gezweifelt. Erst nach drei Monaten erfuhren wir, dass sie noch lebten. Und noch einige Monate später stand plötzlich mein Vater vor uns. Damit hatte ich nicht gerechnet. Den ganzen Krieg über habe ich nie damit gerechnet, dass irgendjemand ihn überlebt. Ich habe nach dem Krieg auch nie nach meinen Freunden gesucht. Manche habe ich zufällig getroffen, aber die gezielte Suche habe ich mir erspart. Ich habe Angst vor dem, was ich erfahren könnte.

Mein Vater war damals 54. Er sagte: "Das ist nicht mein Krieg." Aber auch in Kroatien konnte er als bosnischer Deserteur an die Front geschickt werden: Regelmäßig hielten Lkw voller Soldaten im Dorf, die sprangen runter und suchten nach wehrfähigen Männern. Mein Vater verbrachte Monate in einem Versteck, bis er es schaffte, nach Deutschland zu kommen, ich bin ihm 1994 gefolgt.

Meine Mutter war in Sarajevo geblieben, sie wollte auf das Haus aufpassen, es gehe ja nur um ein paar Tage, sie wollte nicht, dass wir ausgeplündert werden. Erst nach zwei Jahren erfuhren wir, dass sie noch am Leben war.

In Deutschland war es anfangs sehr schwierig. Weil ich volljährig war, durfte ich nicht bei meinem Vater wohnen. Ich wurde in ein kleines Dorf in der Gegend von Oldenburg geschickt, drei Häuser groß. Das wollte ich nicht, ich habe mich erst bei einer Freundin meiner Mutter in Lüdenscheid versteckt, doch nach einem halben Jahr hat mich jemand beim Ausländeramt angezeigt. Also musste ich tatsächlich in dieses Kaff, in diese Baracke, ich als junges Mädchen wohnte zusammen mit vier vietnamesischen Männern. Die Dusche hatte keine Tür. Die einzige Möglichkeit, aus dem Ort wegzukommen, war der Schulbus morgens und mittags, Arbeit konnte ich mir nicht suchen, weil ich nicht wusste, wie ich hinkommen sollte. Ich war verzweifelt.

Doch an Weihnachten klopfte es an meine Tür, eine ältere Frau und eine jüngere sprachen mich an in meiner Sprache. Die jüngere, Christine, ist heute meine beste Freundin. Die ältere Frau stammte aus Kroatien, sie war Jahrzehnte zuvor vertrieben worden. Von meinem Volk. Und ein solcher Mensch hat die Güte, zu mir zu kommen, weil ich an Weihnachten ganz allein bin. Von da an hatte ich meine Christine, die sagte, so geht das nicht weiter, eine junge Frau mit vier Männern ganz allein, sie rannte zum Sozialamt, machte alle verrückt, und dank ihr kam ich in die nächstgrößere Stadt. Dort habe ich Arbeit in einem Hotel gefunden - und wieder gute Menschen. Christine hat mir wieder geholfen, dieses Mal dabei, eine Bewerbung für die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester an der Uni Göttingen zu schreiben. Ich hatte damals auch einen Freund, ein Einzelkind aus einem sehr wohlhabenden Haus, der wurde mein erster Mann. Seine Familie hat mich vom ersten Moment an aufgenommen, mich genommen, so wie ich bin. Mir sind auch sehr viele gute Dinge passiert.

Meine Mutter hat es 1995 aus Sarajevo rausgeschafft, sie hatte gehört, dass meine Schwester ganz alleine ist. Drei Jahre zuvor war sie noch Professorin gewesen, sie trug die Haare kurz, war immer adrett angezogen, eine selbstbewusste Frau. Als wir uns wieder trafen, hatte sie die Zähne verloren, die Haare wachsen lassen, vor mir stand eine Greisin.

Fast 20 Jahre lang haben wir unser Haus Stück für Stück repariert. In diesem Sommer sieht es wieder so aus wie vor dem Krieg.

1997 bin ich mit meiner Schwester zum ersten Mal nach Sarajevo zurückgekehrt. Unser Haus war komplett zerstört, vom Erdgeschoss aus konnte man den Himmel sehen. Aber mein Vater wollte unbedingt zurück nach Hause, und so sind meine Eltern in den Keller gezogen, als Bettdecken haben sie Verdunklungsgardinen genommen. Sie hatten nichts. Meine Mutter bekam jahrelang keinen Job, als Serbin, die auf der falschen Seite geblieben war. Mein Vater arbeitete in seiner alten Firma, der es sehr schlecht ging. Eins nach dem anderen haben sie repariert, die Fenster, das Dach, die Toiletten, erst mal eine Etage, dann die zweite, die haben wir vermietet, übrigens an Moslems. Erst dieses Jahr haben wir es geschafft: Unser Haus sieht wieder so aus wie vor dem Krieg.

Meine Mutter ist vor zehn Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Viele große Männer und große Frauen dieser Generation sind an einem Herzinfarkt gestorben. Ich glaube, man kann tatsächlich an gebrochenem Herzen sterben.