Hajrudin Osmančević
„Auf einer Brücke stellten wir uns mit einigen Menschen dem Panzer entgegen. Wir hatten Benzin dabei – und waren bereit uns damit zu wehren“
Beim Friedenskonzert in der Zetra-Halle landete er zufällig. Doch bei seiner nächsten Friedensdemonstration wollte Hajrudin Osmančević ganz bewusst dabei sein. Denn er merkte schon früh, dass sich etwas in seinem Land veränderte. Als er im April 1992 in Sarajevo mit Zehntausenden anderen für den Frieden kämpft, wird plötzlich in die Menge geschossen. Dieser Tag verändert sein Leben. Ein aktiver Demonstrant ist Hajrudin dennoch bis heute geblieben.
Das Friedenskonzert in Sarajevo werde ich niemals vergessen. Besonders nicht, weil es ein Zufall war, dass ich überhaupt dort gelandet bin. Ich habe zu diesem Zeitpunkt in Zenica gelebt, wo ich auch geboren bin, war jedoch beruflich in verschiedenen Städten unterwegs. Gemeinsam mit ein paar Kollegen war ich damals auf dem Rückweg nach Zenica. Wir fuhren mit dem Auto durch Sarajevo, da einer von ihnen dort lebte. Als wir in die Stadt kamen, sah ich eine Masse an Menschen und fragte mich nach dem Grund dafür. Als ich von dem Konzert erfuhr, entschloss ich einfach spontan hinzugehen. Ich wollte Teil des Konzertes, der Bewegung sein. Ich fand diese vielen Menschen unglaublich beeindruckend. Besonders, weil alle ein gemeinsames Ziel verfolgten.
Da ich allein zum Konzert gegangen bin, war es kein Problem mich noch in die überfüllte Halle zu quetschen. Ich schaffte es sogar, mich ganz nach vorne zur Bühne zu drängeln. Mit ein paar Leuten, die ich an diesem Abend kennenlernte, setzte ich mich irgendwann in eine Ecke der Halle und wir sangen und tranken Schnaps – ich frage mich bis heute, wie die Leute es geschafft haben, die Flasche in die Halle zu schmuggeln. Schade, dass es damals noch keine Handys gab. So war es leider schwierig Kontakt zu halten. Ich habe die Menschen dort zum ersten und letzten Mal gesehen. Wir waren noch bis in die Morgenstunden gemeinsam unterwegs.
Ich war zum Zeitpunkt des Konzerts eigentlich kein Optimist mehr. Aber in der Nacht des Friedenskonzertes vergaß ich das und glaubte doch noch einmal an das Gute.
Ich hatte schon vorher bemerkt, dass sich etwas änderte. Ich merkte, dass bereits versucht wurde, die Menschen auseinanderzutreiben und zu teilen. Deshalb machte ich mir schon vor dem Konzert Gedanken über die Zukunft. Ich kann mich noch an eine weitere Situation erinnern: An einem Tag fuhren plötzlich mehrere Panzer und andere Kriegsfahrzeuge an mir vorbei. Das war eine sehr lange Kolonne an Fahrzeugen, die in Richtung Dubrovnik unterwegs war. Ich wusste, die würden nicht aus Spaß herumfahren.
Es gab noch mehr Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimme: Ich hatte, als ich beruflich unterwegs war, eine Frau kennengelernt – sie hieß Branka. Wir hatten gerade etwas angebandelt, als sie von irgendwelchen Leuten zu einem sogenannten „Interview“ abgeholt wurde. Sie haben Branka zu meiner Person befragt: Ob ich ein Nationalist sei, woher sie mich kennen würde und was wir miteinander zu tun hätten. Spätestens da wusste ich, dass irgendetwas nicht mehr in Ordnung ist.
Im April 1992 organisierte das Eisenwerk, bei dem ich damals in Zenica tätig war, Busse und Züge, die Menschen kostenlos zu einer Friedensdemonstration nach Sarajevo bringen sollten. Verschiedenste Firmen machten das. Nicht nur in Zenica, von überall her fuhren sie nach Sarajevo. Auch ich war wieder dabei. Wir demonstrierten für den Frieden, da sich paramilitärische Gruppierungen bereits in Sarajevo niedergelassen hatten.
Das war am 6. April 1992 – der Tag an dem der Krieg begann.
Wir demonstrierten vom dem Abgeordnetenhaus in Sarajevo. Ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen: Menschen sangen, hoben Transparente mit einem Peace-Zeichen in die Luft, skandierten „Wir geben nicht auf!“. Es waren Zehntausende. Doch plötzlich fielen Schüsse auf uns. Vom Hotel Holiday Inn schossen sie in die demonstrierende Menge. Welche Verrückten machen so etwas denn? Unter den Demonstranten waren auch viele Kinder. Diese Scharfschützen haben einfach auf Zivilisten geschossen. Ich kann bis heute nicht verstehen, wie man so etwas tun kann.
Als die Schüsse fielen, gerieten viele Menschen in Panik. Wir rannten zum Hoteleingang und waren kurz davor die Scheiben dort einzuschlagen, weil sie uns nicht reinlassen wollten. Diese ganze Situation war einfach vollkommen absurd. Ich wusste nicht, wie ich nach Hause kommen sollte. Irgendwann machte ich mich jedoch auf den Weg zum Zug. In Rajlovac – etwas außerhalb Sarajevos – wurde dieser beschossen und sie hielten uns mehr als eine Stunde dort fest, bevor wir weiterfahren durften. Ich glaube, das sollte der letzte Zug für eine lange Zeit gewesen sein, der Sarajevo verlassen hat. Die Menschen im Zug waren völlig durcheinander. Niemand verstand, was an diesem Tag passiert war. Alle waren schockiert.

Kurze Zeit später – es muss Ende April gewesen sein – sah ich mit ein paar Freunden, wie ein Panzer die Kaserne in Zenica verließ und sich in Richtung Stadt bewegte, in die Richtung, in der auch meine Eltern lebten. Ich war damals Teil einer zivilgesellschaftlichen Vereinigung, die sich in regelmäßigen Abständen traf und verschiedenste Dinge organisierte. Auf einer Brücke stellten wir uns mit einigen Menschen dem Panzer entgegen. Wir hatten Benzin dabei – und waren bereit unds damit zu wehren. Wir haben dort gestanden und mit den Soldaten diskutiert. Nach zwei Stunden drehten sie um. Ein paar Tage später wurde ich bereits zum Militär eingezogen. Der Krieg hatte offiziell begonnen.
All diese Erlebnisse während des Krieges werde ich niemals vergessen können. Meine zwei liebsten Freunde habe ich verloren – Miroslav und Rudi. Mit Rudi war ich gemeinsam an der Front. Das Essen während dieser Zeit war eine Katastrophe. Man nahm alles, was man bekommen konnte. Oft war es schlecht. An einem Tag aßen wir beide etwas, ich weiß nicht mehr, was es war, aber wir bekamen beide starke Bauchschmerzen und stritten darüber, wer als erster auf’s Klo gehen dürfe. Irgendwann überließ ich Rudi den Vortritt. Genau in dem Moment als er in die Toilette ging, fiel eine Granate darauf und er wurde getötet. Ist es nicht tragisch und fast schon komisch zugleich, wie so etwas passieren kann? Mit den Erlebnissen, die ich im Krieg gesammelt habe, könnte ich auf jeden Fall Romane um Romane füllen.
Bis zum letzten Tag war ich Jugoslawe - und bin es im Herzen bis heute. Es ist eine seltsame Liebe, die ich zu Jugoslawien habe. Man liebt etwas, dass es zwar irgendwie gibt, dass aber eigentlich nicht existiert. Ich frage mich oft: Wie haben sie es nur geschafft uns dermaßen gegeneinander aufzuhetzen? Menschen, die gemeinsam aufgewachsen sind, das Essen miteinander geteilt haben, sollten sich plötzlich hassen. Bis heute ist mir das alles ein Rätsel geblieben.
Aus diesem einst wunderbaren Land ist heute eines mit viel Elend erschaffen worden.
Ich habe nur einen Glauben, eine Religion: Nämlich die Liebe. Ich glaube auch, dass das Zusammenleben unter allen Ethnien heute wieder funktionieren würde. Dazu müssten aber alle dieselbe Wahrheit erzählen. Stattdessen gibt es leider immer noch zu viele Diskussionen um Schuld und auch zu viele Wahrheiten. Vielleicht brauchen wir eine Art Revolution, damit das Land endlich wieder Schritte nach vorne machen kann. Seit Kriegsende treten wir auf derselben Stelle herum.
Als es 2014 zu großen Demonstrationen in verschiedenen bosnischen Städten kam, war ich auch da vorne mit dabei. Mehrfach musste ich Gewalt seitens der Polizei deswegen einstecken. Dabei haben wir nur versucht das einzufordern, was uns zusteht: Unsere Gehälter, die manche seit Monaten nicht mehr ausbezahlt bekommen haben und eine bessere Zukunft für uns alle. Ich gehöre dieser Kriegsgeneration an, die eine verlorene Generation ist. Heute weiß kaum jemand, wie er weitermachen soll, da die Situation in Bosnien so schwierig ist. Manchmal habe ich auch das Gefühl von Europa im Stich gelassen worden zu sein. Es ist, als würde sich niemand mehr für dieses Land hier interessieren.
Wenn ich eines gelernt habe, dann dass die Liebe zu einem Land niemals so groß werden darf, dass sie zu Nationalismus heranwächst. Menschen sollten einfach niemals in den Krieg ziehen und diesem auch keine Chance geben. Kriege bringen allen Menschen nur Unheil.