Jadranka Pejaković Hlede

"Ich musste die Brücke hinter mir niederbrennen"

Jadranka Pejaković wollte als 13-jähriges Mädchen den Krieg verhindern. Deshalb hat sie mit Freunden 11.586 Unterschriften gesammelt und ist während des Konzerts auf der ZETRA-Bühne aufgetreten. Dabei rief sie alle Kinder im Land auf, sich ihrem Kampf für den Frieden anzuschließen.

Meine 11.586 Unterschriften waren eine Utopie und es ist wirklich witzig, wenn ich mich daran erinnere. Sie zu sammeln war ein 24-Stunden-Job, von früh bis spät, eine Mission. Ich kann mich noch genau erinnern, wie das anfing, worüber ich dachte, sogar wo ich in dem Moment saß, als ich mich für diese Aktion entschied. Diese Sache wurde schnell zu etwas viel größerem als ich erwartet hatte. Wie auch immer: zumindest haben mir diese 11.586 Leute gezeigt, dass ich immer noch an die Menschheit glauben kann.

Ich erinnere mich noch gut an jedes Detail des 28. Juli 1991. Das war ein „big deal“ für so ein kleines und junges Mädchen wie mich. Nach Sarajevo bin ich das erste mal gereist - zusammen mit meinem Vater und meinem Großvater. Der Tag war unglaublich. Wir haben uns die Stadt angeschaut und Kutteln gegessen. Ich fand sie ekelhaft. Für mich war es nicht deshalb ein „big deal“, weil ich zu diesem Großereignis eingeladen wurde mit mehreren 10.000 Leuten und vielen bekannten Persönlichkeiten, sondern weil ich für eine kurze Zeit in den Medien ziemlich bekannt war. Ich habe ein paar Interviews gegeben, bin im Radio aufgetreten, man hat mich zu Großereignissen eingeladen. Man kann sich vorstellen, wie außergewöhnlich das alles für mich war: als ob ich in einen Film hineinspaziert wäre, als ob mich jemand mit meiner Aktion tatsächlich gehört hätte und ich damit etwas verändern würde. Ich war so stolz. Bis heute bewahre ich sämtliche Aufnahmen und Artikel aus dieser Zeit auf.

der erste Artikel über Jadrankas Unterschriften-Aktion

Als wir aus Bosnien und Herzegowina geflohen sind, durften wir nichts mitnehmen. Ich habe es aber irgendwie geschafft, mein Tagebuch mit den Erinnerungen über die Grenze zu „schmuggeln“. In den letzten 25 Jahren habe ich nur ein mal hineingeschaut. Es scheint mir, als ob ich nochmal die „Büchse der Pandora“ öffnen muss, obwohl ich vor den Skeletten der Vergangenheit ein wenig Angst habe. Das ist kein „Tagebuch der Anne Frank“. Mein Vater hatte mir damals verboten, etwas über den Krieg zu schreiben. Er hatte Angst vor Hausdurchsuchungen, sie könnten darin „Anti-Tschetnik“-Propaganda finden, weshalb ich in Geheimzeichen und teilweise in Morse-Codes schrieb. Dies geschah zu einer Zeit, als ich ständig etwas geschrieben, gelesen, wieder geschrieben habe - ein Wunder, dass ich keine Journalistin geworden bin. Jedenfalls war das Schreiben erstmal verboten. Und eigentlich rollten Köpfe zu dieser Zeit auch schon wegen banalerer Dinge.

Zu dieser Zeit war eine Zeit, in der man sich nicht dafür rechtfertigen musste, wenn man einen Nicht-Serben tötete. Im Gegenteil. Und ich war nun mal keine Serbin. Ich bin das Ergebnis einer gemischten Ehe - meine Mutter ist bosnische Muslima, mein Vater Kroate. Zu dieser Zeit war das eine denkbar unglückliche Konstellation. Erst damals habe ich erfahren, was das Wort „Nationalität“ eigentlich bedeutet, weil wir es zu Hause nie benutzten. Ich erinnere mich noch gut, als eine Freundin (ich liebe sie noch immer und wir sind auch heute noch sehr eng befreundet) mich fragte: „Ich bin Serbin, und du?“. Ich wusste nicht, was ich bin, weshalb ich mit „Ich auch!“ antwortete. Diese Szene bringt mich auch heute immer wieder zum Lachen.

„Wenn dich jemand fragt, sagst du, dass du Serbin bist.“

An diesem Nachmittag habe ich meinen Vater gefragt, was das Wort bedeutet. Er hat es mir dann erklärt, doch er verlangte von mir, dass ich in Zukunft auf diese Frage mit „Ich bin Serbin.“ antworte. Das hat mich sehr verwirrt - nicht das mit der Nationalität, sondern mein Vater. Der größte Wahrheitsverfechter, den ich kannte, wollte plötzlich, dass ich lüge. Das hat meine damalige Weltanschauung ganz schön ins Wanken gebracht. Ich erinnere mich noch, dass ich deshalb mit meinem Vater gestritten und diskutiert habe. Er hat dann allerdings vor mir gekniet und mit einem für mich bis dahin unbekanntem Gesichtsausdruck flehte er mich an: „Wenn dich jemand fragt, sagst du, dass du Serbin bist.“ Heute als Mutter zweier Kinder kann ich sein Verhalten und seinen Gesichtsausdruck verstehen; irgendetwas zwischen Verzweiflung, Angst, Liebe und Ungewissheit. Diesen Gesichtsausdruck habe ich danach immer öfter bei meinen Eltern gesehen, weshalb ich immer leiser und gehorsamer wurde.

Wir mussten von da an aufpassen, was wir sagen und welche Worte wir benutzen, weshalb ich außerhalb der Familie kaum noch redete. Früher verwendeten wir oft das Wort „mašala“, ein ursprünglich türkisches Wort, was „schön" oder "gut“ bedeutet. Doch das ist ein Wort, das größtenteils bosnische Muslime in den Mund nehmen - jedenfalls war es kein „serbisches“ Wort. Wir durften das Wort nicht mehr aussprechen, weil man uns erzählte, dass wir dafür mit dem Leben bezahlen könnten. Ich habe mich gefühlt, als ob ich einen Schlaganfall erlitten hätte - unsicher, stotternd und total verspannt. Wenn jemand nicht auf Anhieb verstanden hat, was ich sagte, hatte ich daraufhin Angst, mich zu wiederholen und bin in meinem Kopf das gesamte Wörterbuch auf der Suche nach einem Fehler durchgegangen.

Der Krieg vergeht wie Bilder, die du durch einen Schnellzug siehst

Ich bin wegen meiner Kindheit nicht hassbelastet, auch nicht nach all diesen Erlebnissen. Ich bin auch kein Nationalist geworden und habe auch heute viele Freunde verschiedener Nationalitäten. Meine Kinder werde ich genauso erziehen, wie meine Eltern mich erzogen haben: Menschen sind nur gut oder schlecht, nichts anderes. Auch habe ich keine Vorurteile gegenüber anderen Nationen oder Völkern; ich stelle die Nationalität nicht an erster Stelle, wenn ich neue Leute kennenlerne. Dennoch habe ich den Krieg nur schwer durchlebt. Ich werde ihn wahrscheinlich bis zu meinem Lebensende in mir verarbeiten und durchleben. Der Krieg vergeht wie Bilder, die du durch einen Schnellzug siehst - du siehst diese Bilder, kannst sie aber nicht verarbeiten. In diesen Momenten holen mich diese Ängste ein, weshalb ich jahrelang Albträume hatte. In Kombination mit anderen Symptomen könnte es sich dabei um eine Art PTSP handeln, da bin ich mir nicht sicher. Ich weiß, wie andere Menschen diesbezüglich fühlen. Zumindest heute bin ich in Bezug auf meine Emotionen ruhiger geworden, auch wenn manche Dinge (z.B. Kriegsfilme und Flüchtlinge in den Medien) sie zum Schwanken bringen. So habe ich gelernt, mit meinen Emotionen so gut wie möglich umzugehen, egal wie schwer ein Thema ist.

Meine Kindheit bis zum Krieg war glücklich und sorgenlos. Meine Freunde waren Sabina, Jelena, Vlatka, Sanja, Ivana, Almir, Mario, Zdravko, Ognjen, Rade, Anel...alle gute und fröhliche Kinder, unter uns gab es keine Trennungen oder Teilungen. Wir haben fürs gemeinsame Spielen gelebt und viel gemeinsam unternommen - Hauptsache, wir waren zusammen.

Jadranka, rechts, beim 10. Geburtstag ihrer besten Freundin Jelena, 1988, drei Kroaten, drei Serben, drei Bosniaken, doch damals hat das keinen gekümmert

Ich war Amateur-Funkerin. Ich liebte den Funk-Verein und die Leute dort. Besonders mochte ich es, Leute auf der ganzen Welt per Funk zu kontaktieren. Mein bester Freund dort war Zlaja. Er war 19 Jahre alt, intelligent und immer besonders lieb zu mir. Einst war er der Schüler meines Vaters. Er mochte meinen Vater sehr, weshalb er wahrscheinlich auch mich sehr mochte, doch ich habe ihn immer als besten Freund gesehen. Verliebt war ich hingegen in Emir, der nur ein wenig älter war als ich. Emir ist weggezogen, als der Krieg in Kroatien anfing. Vor ein paar Monaten haben wir Kontakt gehabt, dank Facebook.

Anfang der 90er zogen viele meiner Freunde fort, ganz merkwürdig, von einem Tag auf den anderen ohne Abschied. Später nannten wir die, die rechtzeitig geflohen waren, die Schlauen. Eine meiner besten Freundinnen - Sabina - ist schon 1991 nach Zagreb gezogen. Sie konnte mir nicht erklären, weshalb sie geht, doch wir haben beide geweint, als ob wir uns nie wiedersehen würden. Später haben wir Leute, die schon früh weggezogen sind, die „Klugen“ genannt. Meine Eltern waren nicht so „klug“. Sie waren naiv, dachten, sie seien sicher, auch wenn es zum Krieg kommen würde, nur weil sie zu allen immer nett waren. Mein Vater konnte wegen TBC nicht zum Wehrdienst, weshalb er dachte: „Wem könnte ich denn schon gefährlich werden?“. Die Großen hatten natürlich Angst bekommen, als der Krieg in Kroatien losging, doch wir Kleinen blieben noch eine Zeit lang sorglos. Obwohl wir zu der Zeit schon viele Grausamkeiten über die Nachrichten sehen mussten, waren unsere Kindsköpfe noch immer von der Propaganda vergiftet, die über die Medien schon in großem Stile verbreitet wurde. Mein Freund Rade hat meine breiten Hosen noch immer nicht „dimije“ genannt, und mein Bruder durfte sein schwarzes Hemd noch immer tragen, ohne dass sein Freund Ognjen ihn „Schwarzhemd“ nannte. Wie schnell sich das alles änderte, das weiß ich nicht, gefühlt war es plötzlich. Und es geschah auf die schlimmstmögliche Weise.

Jadranka mit ihrer besten Freundin Jelena und deren Eltern, 1988

Ich sah

Der Krieg begann am 29. April 1992. An diesem Tag veränderte sich alles. Meine Kindheit war vorbei und von nun an wurde für uns alles anders. Über diese Zeit habe ich bisher nur mit meinem Mann gesprochen, denn er wollte eine Begründung für meine Albträume hören. Auch heute rede ich nicht gerne über die Details, an einige will ich gar nicht denken. An diesem vorletzten Apriltag passierte die - wie man sagte - „Befreiung“ von Prijedor. Heute nennen wir es Blutvergießen, Massenmord, Verbrechen, denn sie brachten tausende Menschen in Konzentrationslager, wo sie sie folterten, vergewaltigten und ermordeten.

Ich sah, wie sie einem Mann auf der Straße den Bauch aufschnitten, weil er ihnen seine Ausweisdokumente nicht zeigen wollte. Sah, wie sie den Kopf eines "Aufständischen" auf einen Fahnenmast aufspießten vor einem Kaufhaus, damit wir wüssten, was sie mit "Verrätern" tun. Tagelang hing er am Eingang.

Ich sah, wie sie tagelang Häuser niederbrannten und den Vorort Kozarac zerbombten, bis alles dem Erdboden gleichgemacht war. Und wie sie Menschen in Busse steckten und sie nach Omarska ins Konzentrationslager brachten. Dabei mussten sie sich bücken und ihre Hände am Rücken halten. Meine Mutter sagte mir, dass ich nicht hinschauen soll, nicht, weil ich das nicht sehen sollte, sondern weil das als Nichtakzeptanz solcher Verbrechen interpretiert werden konnte. Auch das wurde mit dem Tode bestraft.

Keraterm, Trnopolje und Omarska hießen die sogenannten Aufnahmestationen für Flüchtlinge, wo man sich angeblich um sie kümmerte. In Wirklichkeit sind nur wenige von dort zurückgekehrt. Eines Tages wurde auch mein Vater zum Verhör mitgenommen, doch wir konnten ihn dank guter Kontakte vor dem Tode bewahren. Später hörten wir, dass er auf der Todesliste ganz oben stand, da er als Kroate eine wichtige Position innehatte (er war Direktor der Erzmine) und als Landvermesser angeblich geheime Karten über dieses Gebiet hatte, die er gegen die „Befreier“ hätte verwenden können. Für jeden fanden sie eine gute Begründung für den Tod.

Viele von den Entführten hat man erst vor kurzem in Massengräbern gefunden, einige noch immer nicht. Den besten Freund meines Vaters hat man gefunden. Meinen Zlajo und seinen Bruder Adnan haben sie mit vielen anderen im gleichen Grab gefunden. Das hat mir das Herz gebrochen, denn ich habe jahrelang versucht, ihn über verschiedenste Kontakte zu finden. Einmal hat er sich im Funk-Verein, als ein Soldat mir seine AK-47 an die Brust hielt, zwischen mich und den Soldaten gestellt und gesagt: „Nicht sie ist Funkerin, sondern ich bin einer!“. Funker haben sie zuerst getötet, weil sie mit der Welt kommunizieren konnten, von der sie uns vollständig isoliert hatten. Die Einfahrt und Ausfahrt aus der Stadt wurden kontrolliert, man durfte nirgends ohne eine spezielle Erlaubnis. Die Sperrstunde wurde eingeführt und alle Medien wurden kontrolliert, die auch schon vorher propagandistisch agierten.

Sie hielten alles unter ihrer Kontrolle, nicht mal eine Fliege konnte raus. So konnte man außerhalb unserer Stadt auch nichts von den begangenen Verbrechen hören. Wir haben uns deshalb einige Zeit versteckt, damit sie vergessen, dass sie uns umbringen müssen. Und dann haben wir uns eine Zeit lang in der Öffentlichkeit gezeigt, damit sie nicht auf die Idee kommen, dass wir irgendwas gegen sie vorhaben. Das war ein regelrechtes Psycho-Spiel. Wir haben natürlich sehr oft versucht, über Kontakte zu fliehen, doch es war nicht möglich. Da war dieser bekannte „Simo“, der die Anträge für die Ausreise unterschreiben musste, doch er weigerte sich. Deshalb warteten wir - sie würden uns entweder umbringen oder rauslassen, irgendwann wird dir klar, dass das die einzig realen Möglichkeiten sind.

Wenn ich heute daran denke, was meine Eltern durchlitten haben, nur damit mein Bruder und ich sicher sind und leben, dann denke ich mir, dass ich nicht so stark sein könnte. Fast all unsere Freunde hatten uns verlassen, denn es war zu dieser Zeit sehr gefährlich, als Serbe mit Nicht-Serben zu sympathisieren. Doch zwei Serben sollten noch eine wichtige Rolle spielen: einer hat uns geholfen, zu überleben; der andere ermöglichte uns die Flucht. Eigentlich finde ich es ekelerregend, Serbe oder Nicht-Serbe zu schreiben, sie und wir. Das ist so unnatürlich für mich! Doch es geht in Bezug auf unsere Geschichte nun mal nicht anders, denn die Nationalität spielte zu dieser Zeit - LEIDER - eine große Rolle.

Mein Vater besorgte eine Bombe und versteckte sie auf dem Balkon

Wir lebten in der höchsten Etage eines neunstöckigen Gebäudes. Einen Meter über uns war ein Scharfschützennest, von wo aus sie ständig sehen konnten, was in der Stadt passiert und von wo aus sie ab und zu auf Leute oder einfach in die Luft schossen. Sie tranken viel, weshalb sie öfters bei uns klopften, um Zigaretten oder Alkohol zu bekommen. Wir hatten nichts, weshalb wir uns Sorgen machten, was sie uns wohl antun würden, wenn sie so betrunken nach irgendwas suchten. Mein Vater, der nie etwas gefährlicheres in der Hand gehalten hatte als ein Küchenmesser, besorgte eine Bombe und versteckte sie auf dem Balkon, damit er uns in die Luft jagen könnte, falls sie kommen würden, um uns zu vergewaltigen. Ich war über diese Vorstellung so erschrocken, doch er war es auch, das konnte ich an seinem Gesichtsausdruck erkennen.

Die Nächte waren schrecklich. Mein Bruder hatte Angst, dass die Typen aus dem Scharfschützennest über den Balkon in unsere Wohnung kommen könnten und ihn dann umbringen, während er schläft. Ich dagegen hatte Angst, nachts mit einer Kerze auf die Toilette zu gehen, weil ich hörte, wie die Scharfschützen über „Lichtsignale“ in Wohnungen mit weißen Fahnen (Nicht-Serben mussten solche Fahnen oder Laken an ihren Wohnungen oder Häusern herablassen, ähnlich wie die Juden vor und während des Zweiten Weltkriegs) gesprochen haben. Daraufhin sollten sie auf jeden Fall schießen, um Verräter umzubringen. Deshalb bin ich nachts in Todesangst zur Toilette gekrochen, weil ich fürchtete, jemand könnte mich durch sein Zielfernrohr sehen.

Eines Tages fing es an, von allen Seiten zu schießen

Eines Tages fing es an, von allen Seiten zu schießen. Wir haben sofort begriffen, dass etwas schlimmes passiert, doch wir wussten nicht was. Wir hörten Schreie von der Straße und vor unserer Tür. Man schoss auch aus „unserem“ Scharfschützennest. Später haben wir erfahren, dass ein Grüppchen von etwa 40 Leuten versuchte, die Macht in der Stadt zu übernehmen, doch alle von ihnen wurden umgebracht. Sie schossen aus allen Richtungen und mit allem, was sie hatten. Doch selbst in dieser Situation gab es so etwas wie Tragikkomik. Meine Mutter hatte dabei einen kompletten Nervenzusammenbruch. Sie rannte durchs Haus und rief: „Die bringen uns alle um! Gehen wir!“

Mein Vater versuchte sie, zu beruhigen, doch auch er hatte Angst, dass uns genau das passieren könnte. Deshalb entschied er, dass wir drei Kilometer durch die Stadt zu Brana und Mile laufen, denen sie bei ihrer Hochzeit als Trauzeugen beigestanden hatten. Die beiden sind es, die uns halfen, zu überleben. Mile konnte uns angeblich retten und beschützen, da er in der Stadt bekannt war als guter „Tschetnik“. Absurd, aber wahr. In dieser abnormalen Situation rannten wir auf die Straße, auf der von allen Seiten geschossen wurde. Plötzlich rief meine Mutter, dass sie ihr „Zepter“-Geschirr vergessen hat. Mein Vater, völlig überrascht von ihrer Aussage, schüttelte sie und sagte: „Was für ein Geschirr? Wir müssen weg hier!“, woraufhin sie antwortete: „Aber ich habe es doch noch gar nicht abbezahlt!“

Ich kann gar nicht beschreiben, wie verrückt die Situation war, besonders für meine Mutter, die normalerweise an keinerlei materiellen Sachen hängt. In dieser Hysterie rannten wir weiter über die Straße, wobei noch immer aus allen Richtungen geschossen wurde. Plötzlich hörten wir aus dem Busch vor uns: „Halt! Wo wollt ihr hin?“ Wir blieben auf der Stelle stehen, und mein Vater schubste uns vor sich her. Wir warteten nur darauf, dass dieser Mann auf uns schießt. Mein Vater rief, dass wir Serben seien, dass wir weiter wollen, und er entschuldigte sich bei ihm. Wir liefen weiter, doch plötzlich blieb mein Bruder - nur ein Jahr älter als ich - auf dem Asphalt liegen und weinte. Ich ging auf ihn zu und sagte mit eiskalter Stimme: "Lieber Damir, bewahre jetzt Ruhe, bitte." Mein Vater holte ihn und trug ihn weiter. Wir hatten schon Zwei Drittel unseres Weges hinter uns, waren schon am Stadion, als etwas auf das Stadion fiel, wahrscheinlich eine Granate. Jedenfalls hat uns eine Detonation auf die Erde geworfen. Zum Glück waren um das Stadion herum Steinmauern, weshalb wir nichts abgekriegt haben. Ich lag auf dem Boden, sah meinen Vater, wie er meine Mutter und meinen Bruder zog und mir etwas zurief - wahrscheinlich, dass ich aufstehen und weitergehen soll. Das nächste, was ich hörte, war das Gelächter meines Bruders, wie er sagte: „Na, wo ist deine Ruhe jetzt?“ Wenn das alles nicht mir passiert wäre, ich würde es nicht glauben. Ich würde nicht glauben können, dass wir am Ende lebend bei Mile ankamen, total verwirrt zwar, aber am Leben.

Wenn mich jemand in einem gewöhnlichen Gespräch nach meiner Kindheit fragt, so nebenbei, denke ich sofort an den Krieg und nur an den Krieg

Es ist schon seltsam: Wenn mich jemand in einem gewöhnlichen Gespräch nach meiner Kindheit fragt, so nebenbei, denke ich sofort an den Krieg und nur an den Krieg. Als wenn ich davor nicht 13 Jahre lang ein glückliches Leben gehabt hätte mit viel Spielen, schönen Erinnerungen, Freunden. Als ob meine gesamte Kindheit in diese paar Monate der Angst gesteckt wurde. Wenn mich jemand nach dem Krieg fragt, dann sage ich nichts, doch ich denke daran, wie mir deshalb meine Kindheit, meine Freunde, Fotos, die bis dahin erreichten Ziele meiner Eltern für immer genommen wurden. Ich denke daran, wie man mich dazu zwang, zwei komplett verschiedene Leben zu leben, die ich in der Wirklichkeit nie miteinander verbinden konnte. Meine Verbindungen mit allem, was ich bis dahin kannte, waren weg.

Als wir dann geflohen und in diesem neuen Leben angekommen sind, das auch nicht gerade ein Märchen war, da musste ich die Brücke hinter mir niederbrennen, um weiterleben zu können. Ich musste aufhören, in meinen Wunden zu wühlen und die alten Seiten meines Tagebuchs anzuschauen, damit ich in Ruhe schlafen konnte.

Eine Patronenhülse warf ich weg, die mich um einen Zentimeter verfehlt und sich in den Fensterrahmen neben mir gebohrt hatte. Lange trug ich sie bei mir als Erinnerung, dass ich Glück gehabt habe. Ich warf sie hinter mich auf den Weg, von dem ich kam.
Es war symbolisch und theatralisch, genauso wie ich es mir wünschte.

„Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden, weil ich alles habe, was ich brauche.“

Und während wir in dem Bewusstsein an dieser Grenze zu Deutschland standen, dass wir nichts haben und nie wieder zurückkehren werden, als wir nach vorne schauten Richtung des „gelobten Landes“ Deutschland, das uns nicht aufnehmen wollte, weil wir keine Garantiebescheinigung hatten, hat mein Vater seine Arme ausgebreitet, uns umarmt und gesagt: „Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden, weil ich alles habe, was ich brauche.“ Das ist eine Sache, an die ich mich sehr oft erinnere und die zu meinem Lebensmotto geworden ist, meine Motivation für das Leben. Wir haben angefangen, einen neuen Krieg zu überleben - still, in uns. Es war sehr schwer für mich, dies mit jemanden zu teilen - vielleicht ein oder zwei Mal in den vergangenen 25 Jahren und heute nochmal.

Ich habe zwei Kinder: einen Jungen von drei Jahren und ein Mädchen von acht Monaten. Mir macht der neue Nationalismus Sorgen, vor allem, seit ich Kinder habe und wir über quasi-moderne und zivilisierte Länder reden. Es scheint unglaublich, was zurzeit passiert. Ich frage mich, ob wir uns einzeln, mit Terror, mit einem neuen Weltkrieg, mit einer Atombombe oder etwas anderem vernichten werden. Auch wenn ich nicht depressiv bin, ist es zurzeit schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, dass schon seit längerem etwas nicht in Ordnung ist. Ich spüre eine tiefe Niederlage der Menschlichkeit und ein Empfinden, dass das Böse unbemerkt und unaufhaltsam immer weiter gestärkt wird. Ich weiß nicht, was der Einzelne dagegen tun kann. Vielleicht wird das ZETRA-Projekt ein Schritt nach vorne sein, vielleicht auch nicht, doch es ist diesen Versuch wert.

Manchmal traue ich der übrig gebliebenen Menschlichkeit nicht, ja nicht einmal meinen eigenen Gedanken. Aber wer ist hier eigentlich verrückt? Ein Beispiel: die aktuelle Flüchtlingskrise. Ich sehe diese armen Menschen und die Kinder, die ihr ganzes Leben in Tüten gepackt haben, Meere, Flüsse, Länder, Grenzen, Stacheldraht überwinden auf der Suche nach einem besseren Leben. Ja, sicher gibt es unter ihnen Kriminelle, einen schlechten Menschen, den du überall finden kannst. Dieses Gefühl ist mir sehr bekannt. Das ist eine schlimme Erfahrung, weil jedes Bild aus der Vergangenheit für immer im Kopf hängen bleibt. An den Gesichtern der Flüchtlinge sehe ich das, was ich erlebt habe und weine - öffentlich oder in mir.

Ich war überzeugt, dass meine engsten Freunde und Bekannten ähnlich denken. Doch dann hörst du Kommentare gegen Flüchtlinge, gegen Menschlichkeit, Nationalismus und Sadismus von eigentlich normalen und höflichen Leuten mit denen du bis eben noch über alles geredet hast. Wie kann man denn, ohne den Krieg erlebt zu haben, ohne diese Erfahrungen, völlig sicher und unwissend über die Schicksale dieser Menschen so selbstbewusst auftreten? Mir graut es, solche Menschen um mich herum zu haben, besonders weil es so viele sind, weil ich es ihnen nicht erklären kann, weil ihre Kinder mit meinen spielen und ihre Gedanken austauschen werden. Was, wenn es zu viele sein werden und sie ihnen glauben? Wo immer man auf der Welt strandet und welche Nachrichten auch immer man liest, überall begegnet man dem gleichen Hass, dem gleichen Leid und der gleichen Gefahr. Das ist besorgniserregend, auch für uns Optimisten.