Jasmina Bangert

"Ich habe mich gefragt: Werde ich ein Kind des Krieges sein?"

Deutschland ist Jasmina Bangerts alte und neue Heimat. Aufgewachsen ist sie in Vaihingen an der Enz, aber in den 80ern zog ihre Familie zurück nach Sarajevo. Doch schon 1992 flohen sie wieder nach Süddeutschland. Am 28.7.1991 tanzte sie auf dem ZETRA-Konzert.

Ich war mit 16 Jahren in der ZETRA-Halle auf dem Friedenskonzert dabei, zusammen mit meinen Freundinnen mitten in der Menschenmasse - aber nur zwei Stunden lang. Dann stand mein Vater vor der Halle; er war Taxifahrer in Sarajevo. Meine Eltern waren nicht begeistert davon, dass ich auf das Konzert wollte. Sie machten sich Sorgen, weil es kurz zuvor in Kroatien schon Kämpfe gegeben hatte.

Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber meine Eltern sind mit uns in den 80ern zurückgegangen nach Sarajevo: Wir Kinder sollten dort zur Schule gehen, die Sprache richtig lernen. In diesen Jahren habe ich ein Tagebuch geführt, in das ich in den vergangenen Tagen wieder hinein geschaut habe. Mein letzter Eintrag stammt aus dem September 1991, wenige Monate, bevor wir aus Sarajevo wieder zurück nach Deutschland flohen. Mir wird darin bewusst, dass in meinem Land ein Krieg begonnen hat, und ich frage ich mich: Werde ich ein Kind des Krieges sein? Wohin wird mich mein Leben führen?

Ich weiß noch, wie meine Lehrerin Anfang April 1992, am Tag vor dem Zuckerfest, zu uns Kindern sagte: "Am Montag sehen wir uns dann in alter Frische wieder." Wir haben uns nicht wiedergesehen. Stattdessen war die Stadt auf einmal voll mit Barrikaden. Mir ist vieles erst später bewusst geworden: die Panzer, die durch die Stadt zogen, bevor sie auf die Berge hinauf sind, die Soldaten auf den Barrikaden - ich weiß noch, wie wir in unserem jugendlichen Irrsinn hingelaufen sind, um die anzugucken. So richtig begriffen habe ich es nicht, die Angst kam später.

Die kam, als wir mit dem Bus Sarajevo verlassen haben. Mein Onkel, der seit 1960 in Deutschland lebte, hatte zu meinen Eltern gesagt: "Schickt mir wenigstens die Kinder." Und so haben meine Mutter, meine Oma, mein Bruder und ich am 16. April 1992 Sarajevo verlassen, am nächsten Morgen waren wir am Bahnhof in München, wo mein Onkel uns abholte. Mein Vater und mein Opa sind in Sarajevo geblieben. Mein Großvater kam wenig später nach, mein Vater erst nach zwei Jahren.

"Als wir meinen Papa einmal im TV sahen, wussten wir: Er ist zwar verletzt, aber er lebt."

Am Anfang hörten wir noch ab und zu von ihm, da gab es eine Verbindung durch die Funk-Amateure, aber die brach ab. Danach wussten wir sechs Monate lang nichts von ihm. Wir haben die Nachrichten im Fernsehen geschaut, um zu erfahren, wie es um Sarajevo steht. Und eines Tages sah ich wirklich meinen Vater im Fernsehen, so wussten wir: Er ist verwundet, aber er lebt. Wir waren in Deutschland, wir waren in Sicherheit, wir hatten alles, und doch nichts. Mir ist bewusst, wie viel Glück wir gehabt haben. Es hätte alles auch anders kommen können. Dieses Bewusstsein macht mich stark.

Ich ging in Vaihingen zur Schule, macht eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin und arbeitete als solche, aber weil wir Deutschland in den Achtzigern freiwillig verlassen hatten, durften wir nicht bleiben. 1998 war es soweit, wir wurden in Deutschland nicht länger als Kriegsflüchtlinge geduldet. Also sind wir zurück nach Bosnien.

Als ich Sarajevo das erste Mal wieder gesehen habe, liefen die Tränen von alleine, die Stadt hatte sich so verändert. Und so viele Menschen - eine ganze Generation - fehlen, Freunde und Bekannte sind weg, geflohen, gestorben.

In Bosnien hatte ich nie Konflikte zwischen Menschen mit verschiedenen Religionen oder verschiedener Abstammung mitbekommen, das war in der Schule oder im Freundeskreis kein Thema. Erst in Deutschland habe ich die Teilung auf einmal extrem gespürt, die verschiedenen Gruppen, die sich gebildet haben. Man hat zwar miteinander gesprochen, aber genau gewusst, wer Kroate, Serbe, Bosnier ist. Aus den Erzählungen meines Vaters weiß ich, dass es in den 1970ern anders war: Da gab es einen jugoslawischen Club, in dem haben sich alle getroffen und sind zusammen gesessen.

Meine Familie lebt seit 18 Jahren wieder in Sarajevo, ich habe dort meinen Ex-Mann kennen gelernt, der als deutscher Soldat in Bosnien stationiert war. Mit ihm bin ich zurück nach Deutschland gegangen. Meine Tochter ist jetzt neun Jahre alt, sie ist mit meiner Geschichte aufgewachsen. Ich will ihr beibringen: Das Leben kann sich von heute auf morgen ändern: Ich war mit 16 fröhlich, wollte ausgehen, in dieser Stadt leben, in diesem Land. Ich hatte Zukunftspläne, wollte studieren. Es ist alles anders gekommen, aber ich bin ganz zufrieden. Ich will, dass meine Tochter weiß, dass wir Menschen alle gleich sind, dass wir Menschen uns gegenseitig respektieren müssen. Ich sage ihr immer wieder: "Auch wenn man viel anderes hört: Es gibt Liebe." Daran soll sie glauben. Irgendwann wird sie auch mein Lieblingsbuch „ Die Liebe ist ein Zauberer, Vater“ („Ljubav je sihirbaz, babo“ von Nura Bazdulj-Hubijar) lesen und es verstehen, dass die Liebe alles schaffen kann.