Marija Lazarevska
„Unsere Zukunft auf dem Balkan ist sehr ungewiss. Wahrscheinlich sehnen sich deshalb so viele Menschen nach dieser vergangenen Zeit“
Sie war gerade einmal sechs Jahre alt, als ihre Eltern sie mitnahmen auf das Friedenskonzert in der ZETRA-Halle. Kurze Zeit später musste Marija Lazarevska ihre Heimat verlassen, um mit einem der letzten möglichen Konvois aus Sarajevo zu flüchten. Sie erinnert sich noch ganz genau an den Moment, als sie verstand, dass das Land, welches ihre Eltern von Herzen liebten, zerfallen würde.
Ich war erst sechs Jahre alt, als wir das Friedenskonzert in der ZETRA-Halle besuchten. Meine Eltern nahmen meinen jüngeren Bruder und mich mit dorthin. Für sie war es sehr wichtig, Teil dieser Bewegung zu sein. Außerdem liebten sie die jugoslawische Rockmusik. Als wir in die Halle kamen, war sie bereits komplett voll mit Menschen. Da mein Bruder und ich noch so jung waren, suchten meine Eltern nach Sitzplätzen für uns alle. Als die Leute sahen, dass sie mit Kindern unterwegs waren, sind viele einfach aufgestanden und haben uns ihre Plätze angeboten. Ich erinnere mich nicht an viele Details. Aber ich erinnere mich ganz genau an diese unglaublich positive Energie der Menschen.

Meine Eltern erzählten mir später viel von dem Konzert. Sie erzählten davon, wie stark sich diese Atmosphäre in der Halle angefühlt habe. Überall waren nur glückliche und zufriedene Menschen, die sich gemeinsam für ein Ziel einsetzten: den Frieden. Die Leute damals wollten einfach nur ihr normales – falls man dieses Wort nutzen kann – Leben weiterführen. Sie wollten den bereits begonnenen Krieg beenden und das gemeinsame Leben fortführen. Gerade Sarajevo war das Jugoslawien im Kleinformat. Wir haben dort gelebt. Uns war völlig egal, wer was war. Ethnien waren irrelevant. Niemand hat danach gefragt. Wir waren einfach Menschen.
Für mich ist eine Sache sicher: Niemand wollte diesen Krieg. Vor allem hat jedoch auch keiner darüber nachgedacht, dass er wirklich in solchem Ausmaß ausbrechen könnte. Diese Vorstellung war komplett absurd. Doch ich erinnere mich gut an den Moment, als ich merkte, dass etwas nicht mehr stimmte.
Wir wohnten damals im Bezirk Grbavica in Sarajevo, direkt hinter dem Stadion des Fußballclubs Željo. Unsere Nachbarn dort waren wie unsere Familie. Sowieso war das gemeinsame Leben von Nachbarn damals etwas ganz anderes, als es heute ist. Man war sich sehr nah und hat alles miteinander geteilt. Eines Tages kamen unsere Nachbarn sehr früh morgens zu uns. Sie hatten viel Brot in den Händen. Plötzlich sagten sie: „Nehmt das Brot! Der Zugang zur Stadt ist überall blockiert. Wir wissen nicht, wann wir wieder etwas zu essen kaufen können. Der Krieg hat angefangen.“ Diese eine Situation hat sich mir sehr genau ins Gedächtnis gebrannt.

Meine Eltern wurden nicht müde uns Kindern täglich zu sagen, dass das alles schnell vorbei sein würde – Woche um Woche wiederholten sie das. Doch anstatt aufzuhören, wurde alles immer nur schlimmer und schlimmer. Da Grbavica sehr zentrumsnah in Sarajevo liegt, mussten wir uns immer gut verstecken, da bei uns viel geschossen wurde. Wir mussten uns zuhause ständig auf den Boden legen, damit die Scharfschützen uns nicht erwischen. Meistens haben wir uns im Keller versteckt. Auch die Gardinen waren immer zugezogen. Ich erinnere mich an die Dunkelheit zuhause und das grelle Licht, wenn Granaten fielen. Mein Vater hat sein gesamtes Werkzeug und auch Schaufeln neben uns in den Keller gelegt. Für den Fall, dass uns jemand etwas antun wollte, hatte er sich die Sachen zur Verteidigung bereitgelegt. Ich erinnere mich auch daran, wie wir alle Essensvorräte, die wir noch daheim hatten, gegessen haben, weil man nichts kaufen konnte. Das alles passierte kurz bevor ich eingeschult werden sollte.
Im Krieg leiden nicht die Politiker, die die Entscheidungen über all das treffen, sondern die einfachen Menschen.
Meine Eltern hatten die ganze Zeit über Hoffnung, dass der Krieg etwas sehr schnell Vergängliches sein würde, doch sie wurden enttäuscht. Nach zwei Kriegsmonaten entschieden sie sich deshalb dazu Sarajevo zu verlassen, solange es noch möglich war. Wir flüchteten mit einem der letzten Konvois aus der Stadt und gingen nach Mazedonien. Nur die Eltern meines Vaters wollten Sarajevo nicht verlassen und blieben. Wir sind Mazedonier und ein Großteil der Familie lebte sowieso in Skopje. Es war nicht leicht alles hinter sich zu lassen – die Menschen, das Haus, die Heimat. In dem Moment, in dem man sich entscheidet zu flüchten, verlässt man ein ganzes Leben.
Unser Haus in Sarajevo ist komplett abgebrannt. Wir haben dort alles verloren, was wir hatten. Unsere Nachbarn, die in der Stadt blieben, haben noch ein paar Dinge aus den Ruinen unseres Hauses für uns retten können. Meine Eltern haben sich nach dem Krieg irgendwann eine Wohnung in Sarajevo gekauft. Ich glaube, mein Vater liebt diese Stadt mehr als alles andere auf der Welt. Er würde sich es niemals nehmen lassen, mindestens ein Mal im Jahr Zeit dort zu verbringen. Deshalb sind wir relativ häufig dort.

Meine Eltern sind große Jugo-Nostalgiker und betrachten sich bis heute als Jugoslawen. Sie erzählen mir häufig davon, was für ein tolles und geregeltes Leben sie damals hatten. Dass sie sich keine Sorgen um die Zukunft gemacht und sie sich immer sicher und wohl gefühlt haben. Sie erzählen dann auch von den vielen guten Menschen um sie herum, von der großen Brüderlichkeit und Einigkeit. Mit ihrem jugoslawischen Pass konnten sie die ganze Welt bereisen. Heute braucht man gefühlt für jeden Ausflug ein Visum.
Für meine Eltern war Jugoslawien ein bisschen so wie die Idee des heutigen Europas. Natürlich um ein paar Jahrzehnte zurückversetzt, jedoch mit dem Gedanken der Einigkeit von Menschen unterschiedlicher Nationalität. Sie haben dieses zerstörte Land wirklich von Herzen geliebt.
Das Leben in Mazedonien heute ist nicht einfach. Besonders für junge Menschen. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, den Menschen geht es schlecht. Die meisten meiner Freunde und Bekannte würden sofort auswandern, wenn sie könnten. Unsere Zukunft auf dem Balkan ist sehr ungewiss. Wahrscheinlich sehnen sich deshalb so viele Menschen nach dieser vergangenen Zeit, in der sie einfach ein normales Leben führen konnten.