Naida Kurdija

"Der Krieg hat mir gezeigt, was ein rechter Mensch ist"

Gemeinsam mit ihrem besten Freund sammelte Naida als Neunjährige eine Million Unterschriften gegen den Krieg. Sie waren davon überzeugt, dass jede einzelne Unterschrift die Welt verändern und das Böse aufhalten würde. Als der Krieg in Sarajevo ausbrach, wurde Naida zu einem Flüchtling in der eigenen Stadt. Sie ist sich sicher, dass der Krieg ihr gezeigt hat, was ein rechter Mensch wirklich ist. Ihre Heimatstadt hat sie nie verlassen, heute arbeitet sie als Journalistin in Sarajevo.

Als das Konzert stattfand, war ich zu jung, um daran teilzunehmen. Ich habe es mir aber im Fernsehen angeschaut, weil ich die Lieder meiner Lieblingsbands hören wollte. Nach der Hälfte des Konzerts stellte ein Mädchen ihre gesammelten Unterschriften für den Frieden vor. Ich erinnere mich noch, dass es eine sehr kleine Zahl war im Gegensatz zu den Unterschriften, die ein Freund und ich gesammelt hatten: Wir hatten fast eine Million.

Wir haben Leute auf der Straße angehalten. Unsere „Basis“ war der Platz vor der Kathedrale. Wir sind um die Häuser und Vorgärten gezogen und haben als Neunjährige unsere Argumente vorgebracht. Im Fernsehen hatten wir gesehen, wie zwei Jungen in Italien dasselbe getan haben, und dachten, dass wir das auf dieselbe Weise auch in Sarajevo tun könnten. Wir dachten, dass wir mit jeder einzelnen gesammelten Unterschrift die Welt verändern würden. Unsere Unterschriften-Aktion würde dazu beitragen, dass wir nie - wirklich nie – das Gleiche erleben würden wie die Kinder, die wir in Kriegsdokus gesehen hatten. Wir waren so stolz auf die Menschen, die unterschrieben und auf uns selbst. Als Kinder waren wir vollends davon überzeugt, dass unsere gesammelten Unterschriften Barrikaden gegen das Böse darstellen. Doch wir stellten schnell fest, dass echte Barrikaden gar nicht das Böse aufhielten, sondern vielmehr der Beginn dessen waren.

Naida und ihr Freund Faruk am Ende eines Tages, an dem sie Unterschriften gesammelt hatten. Sie stehen auf dem Balkon ihrer Oma, wo sie die Unterschriften zählen und Hefte für neue Unterschriften vorbereiten.

Ich dachte nicht, dass ein Krieg möglich sein würde. Als ob ein Kind sich so etwas überhaupt vorstellen könnte. Als der Krieg begann, hatten wir Sommerferien. Erholung, kindischer Blödsinn und totale Sorglosigkeit – das war der Sommer 1991. Mein Vater plante mir ein Pony zu kaufen und mich auf eine Reitschule zu schicken. Dieser unerfüllte Traum ist nur eines von vielen Dingen, die mir der Krieg genommen hat. Allerdings hat er mir auch sehr viel gegeben, zumindest der älteren Version von mir. Zugegeben, auch mein weiterer Lebensweg ist nicht so schlecht geworden, wie man das vielleicht hätte annehmen können. Heute bin ich weder zehn, noch vierzehn Jahre alt – so alt war ich, als der Friedensvertrag unterzeichnet wurde. Trotz allem erinnere ich mich an jedes Gefühl und jede Frage, die nur ein Kind stellen kann. Ich hatte damals schon längst vergessen, was Frieden ist und was er bedeutet.

Unbewusst teilen wir unser Leben in zwei Teile auf: Es gibt ein Leben vor dem Krieg und eins danach. Du willst das nicht, doch es passiert einfach. Einige Ereignisse und Bilder brennen sich ins Gedächtnis und leben wahrscheinlich so lange, wie wir auch leben werden. Eigentlich ist das gar nicht so schlecht. Das ist gut, denn wenn ich diese Bilder nicht als Richtungsweiser in meinem Leben gehabt hätte, wer weiß, wie es verlaufen wäre? Wer weiß, was für ein Leben ich leben würde? Menschen, die von trivialen Sachen befangen sind, verstehe ich nicht, denn der Krieg hat mein Wesen in der Weise geprägt, dass ich nur die wichtigen Sachen im Leben schätze.

Es ist nicht wichtig, was du im Leben durchmachst. Wichtig ist, was du daraus gelernt hast.

Der Krieg hat mir gezeigt, was ein rechter Mensch ist. Auch wenn es schlimm klingt, ist es diese Aussage nicht. Wirklich! Heute bin ich ein Gemälde, auf dem Spuren vieler verschiedener Pinsel und Farben zu sehen sind. In mir ist jeder Tag und jeder Mensch abgezeichnet, dem ich in meiner Kindheit im Krieg begegnet bin und jeder hat mir etwas beigebracht. Es ist nicht wichtig, was du im Leben durchmachst. Wichtig ist, was du daraus gelernt hast. Wenn ich heute analysiere, was ich bin und was nicht, dann bin ich all diesen Menschen von damals etwas schuldig.

Als meine Freunde Alexander, Nikola und Darko unsere Straße über Nacht verließen, habe ich zum ersten Mal erfahren, dass ich mich von ihnen unterscheide. Bis dahin hatte ich sie nur in der Weise von mir unterschieden, dass sie mir zu Ostern Ostereier und ich ihnen einen Teil unseres Festlamms brachte. Wir sind bestimmt auch heute dieselben Kinder, auch wenn ich sie nie wieder gesehen habe.

Als im September 1992 ein verwundeter Soldat der bosnischen Armee an unsere Tür klopfte und uns mitteilte, dass unser Haus an der vordersten Front liegt und der Armee aufgrund ihrer Lage als Sitz des Krisenstabs und der Ambulanz dienen könnte und wir das Haus deshalb so schnell wie möglich verlassen mussten, als ich mich von meinem Zimmer, von meinen Sachen, Erinnerungen und Tieren trennen musste, da habe ich begriffen, wie leicht Eltern es ihren Kindern machen, solche Situationen zu ertragen.

Naida und Faruk während des Krieges. Ihre Fotos entwickelten sie selbst.

Als wir in Begleitung von Scharfschützen und Schützenpanzern ins Zentrum der Stadt zu meiner Großmutter gefahren wurden, habe ich gelernt, dass es da irgendwelche bösen Menschen gibt, die uns ohne Grund angreifen. Als wir bei meiner Großmutter länger blieben, als ich es erwartet hatte, habe ich die Wörter Flüchtling, humanitäre Hilfe, Soldat, Gewehr und Krieg kennengelernt. Gleichzeitig begriff ich, dass die drei Tage Besuch bei meiner Großmutter keine Lüge waren, sondern elterliche Liebe unter dem Deckmantel des Trostes.

Als ich zum ersten Mal die Detonation einer Granate hörte, die in das Dachgeschoss unseres Hauses einschlug, während wir in den unteren Etagen waren, habe ich gelernt, dass es Töne und Situationen gibt, die ich vorher nur aus Rambo-Filmen kannte. Nachdem ich tagelang weinte, weil mein Hamster, Hund und meine Fische in unserem Haus bleiben mussten, habe ich begriffen, dass meine Eltern für eine Dummheit zwischen Granateinschlägen zwanzig Kilometer liefen, unbewaffnet, ihr Leben riskierend, nur um mir meine Tiere wieder zu bringen, damit ich wieder lache.

Als ich eines Tages Wasserkanister holte und mich ein Soldat zu sich zog, um mich vor Scharfschützen zu beschützen, lernte ich, dass es mutige und selbstlose Helden gibt, die ich vorher nur aus Filmen kannte.

Nicht einmal ein Krieg schafft es, die Kreativität eines Kindes zu zerstören.

Als ich von der Straße, in der wir gewohnt hatten, halbtote und verletzte Katzen, Hunde und Tauben nach Hause brachte, haben meine Eltern so sehr geschimpft, dass ich in Tränen aufgelöst zu Onkel Božo in das Priesterseminar ging. Er hat mich getröstet und mir geholfen, die Tiere zu verarzten. Da habe ich begriffen, dass meine Eltern nur deshalb schimpften, weil ich unter Granatbeschuss nach verletzten Tieren gesucht und mich dabei in Gefahr gebracht hatte – sie hatten natürlich nur Angst um mich. Ich habe auch gelernt, dass Onkel Božo ein Ersatz für meinen Großvater war, den ich im Krieg nicht sehen konnte. Onkel Božo ist vor wenigen Jahren gestorben. Ich erinnere mich an ihn als einen Freund; an sein Lächeln, wenn ich kam und an die vielen Verbände, mit denen wir die Tiere verarzteten. Ich habe gelernt, dass das Sorgen um den anderen eine gute menschliche Eigenschaft ist und es bedeutet, Augen auch für jemand anderen als sich selbst zu haben.

Ich erinnere mich daran, als ich Lieder schrieb und sie mit einem Freund, der Gitarre spielen konnte, vor Hauseingängen sang. Als wir alle möglichen Motive an Wände malten und Ausstellungen organisierten. Als wir Kleidung für Puppen nähten und aus Granatenhülsen Blumenvasen machten. Bei all diesen Dingen lernte ich, dass nicht einmal ein Krieg es schafft, die Kreativität eines Kindes zu zerstören und ihr die rosarote Brille abzunehmen. Noch immer sieht man die Spuren unserer Malereien am Hauseingang meiner Großmutter, unter denen unsere Namen stehen.

Wenn du den Krieg in deiner Stadt durchlebst, dann seid ihr eins. Wenn der eine verletzt ist, spürt auch der andere den Schmerz.

Ich erinnere mich daran als meine Stadt umzingelt wurde; als Sarajevo wie ein Stier beim Stierkampf mit einem Lächeln Schläge empfing und diese nicht erwiderte, in der Hoffnung, dass sein sanftmütiges Herz das derjenigen verwandeln würde, die es schlugen – da habe ich gelernt, Respekt zu haben vor seinem Namen und allem, was diese Stadt erleben musste. Wenn du den Krieg in deiner Stadt durchlebst, dann seid ihr eins. Wenn der eine verletzt ist, spürt auch der andere den Schmerz. Sarajevo ist die Stadt, in der ich geboren wurde, in der ich zurzeit lebe und deren Erde mich – hoffentlich – irgendwann einmal bedecken wird, wenn ich sterbe. In so einer Situation lernst du, dass auch dir all das weh tut, was dieser Stadt im Krieg und auch im Frieden widerfahren ist. Eine Stadt, die sich nie angepasst hat und alle liebt, die aufrecht und mutig wie sie selbst gehen.

Wenn du im Krieg aufwächst und das in den Jahren, in denen du noch mit Spielzeug spielst, lernst du, dass Spielzeug bizarr sein kann, dass du auch mit Granatsplittern spielen kannst, mit nicht explodierten Truppentransportern, Granaten oder Konserven. Du kannst auch mit deinen Freunden um die Wette laufen und zu schauen, wer es wohl als Erster mit vollen Wasserkanistern in den 4. Stock schafft und dabei so wenig Wasser wie möglich verschüttet. Wenn du Menschen und Tieren unbewusst näher kommst, dann lernst du, dass es eine natürliche menschliche Eigenschaft ist, sich um den jeweils anderen zu sorgen.

Wenn du im eingefrorenen Fluss Miljacka ein Loch buddelst, um Wäsche zu waschen und dir die Hände vor Kälte abfallen, dir jedoch ein älterer Mann seine Handschuhe gibt – da lernst du, dass Menschen füreinander da sind und Egoismus eine der schlimmsten menschlichen Eigenschaften ist.

Wenn du eine Möglichkeit entwickelst, mit den Leuten vom anderen Ende der Stadt zu kommunizieren, weil du sie nicht mehr treffen kannst und das bedeutet, dass ein Soldat dir ein Mal im Monat Briefe bringt, dann kannst du es kaum erwarten, sie endlich zu lesen. In solchen Situationen lernst du, dass Beziehungen bestehen, die kein Krieg zerstören kann. Es gibt immer eine Möglichkeit zu kommunizieren. Wenn du einer Frau gefällst, die in der Gemeindeverwaltung humanitäre Hilfspakete verteilt und dir erlaubt, hinter dem Pult mitzuhelfen und du nach ein paar Tagen ein Brot mehr bekommst und damit so stolz nach Hause rennst, als sei es das das Wertvollste überhaupt, dann lernst du, dass du mit deinen eigenen Händen etwas verdienen und ausrichten kannst.

Als wir 1998 in unser Haus zurückkehrten, konnte ich es und unsere Straße nicht wiedererkennen. Es sah aus wie in einem Horrorfilm. Kein Haus, keine Obstbäume, kein Vorplatz, kein Zimmer oder sonst etwas, woran ich mich aus meiner Kindheit erinnern könnte. So habe ich gelernt, dass ein Haus wieder aufgebaut werden und in dieses zwar neues Leben einziehen kann, Menschen jedoch nicht ersetzt werden können.

Naida auf der Baščaršija in Sarajevo, der Hauptplatz der Altstadt

Wenn ich mich daran erinnere, wo ich war und was ich fühlte, als der Dayton-Vertrag unterschrieben wurde, wenn Onkel Clinton ein Held für dich ist und du 20 Jahre später so nah neben ihm stehst, dass du ihn begrüßen kannst, dann merkst du, dass das Kind in dir noch immer lebt und du ihn nicht als Politiker siehst, sondern ihn mit einem emotionalen Moment verbindest. Am Ende habe ich gelernt, dass die Kraft eines Kindes enorm ist, sein Herz unglaublich groß, sein Mut zu Beneiden, sein Gedächtnis unberechenbar, weshalb ich die Intuition und die Meinung von Kindern über Erwachsene nie unterschätze.

Heute bin ich kein Kind mehr und der Frieden hat mir ebenfalls viel beigebracht: Beispielsweise, dass die Verbrecher im Frieden viel böser sein können als die im Krieg. Kriegsverbrecher töten uns und verringern unsere Zahl. Verbrecher im Frieden halten uns am Leben und bringen dann alles Schöne und Wertvolle in uns und in unserem Leben um.

Der Frieden hat mir gezeigt, dass es Wut, Gottlosigkeit, Hinterhältigkeit und das reine Böse gibt. Der Krieg zieht aus uns, was wir sind. Was wir in uns haben, kommt zum Vorschein und wir merken es gar nicht. Kämpfer, Feigling, mutig, ängstlich – dasselbe macht der Frieden auch und auch da merken wir es nicht. Auch wenn wir eine geschädigte Generation sind, haben wir mehr Menschlichkeit in uns bewahrt als die Generationen, die im Frieden aufwachsen. Die Wörter Miteinander, Frieden, Hilfe, Mut, Verstand, Charakter, Empathie, Altruismus, Mensch sind Wörter, die für Kinder im Krieg große Bedeutung haben. Diejenigen, die nicht wissen, was Krieg bedeutet, werden ihre Bedeutung nie genau erfahren.

Einem Menschen, der im Krieg aufwuchs, sind viele triviale Sachen nicht klar und er wird sie auch nicht verstehen. Ein Mensch, der im Krieg aufwuchs, weiß nur, was Mut ist. Er verneigt sich nicht vor Verbrechern, beleidigt keine Opfer, redet die Bedeutung verlorener Leben nicht klein, lebt kein vom Geld bestimmtes Leben, hat keine Metastasen im Gedächtnis und hat einen gesunden Körper und Geist. Ich habe gelernt, dass ein Mensch nicht am Status, Namen, Geld und anderen Dummheiten gemessen wird, sondern an dem, was er tut und welche Spuren er hinterlässt. Und alles, was ich damals durchgemacht habe, hatte einen Sinn – alles Böse für etwas Gutes.