Tatjana Blažević
„Leider waren wir wie Schafe, die von falschen Hirten geführt wurden“
Ihre Mutter ist eine überzeugte Pazifistin und nimmt ihre Kinder deshalb mit auf das Friedenskonzert nach Sarajevo. Tatjana Blažević erinnert sich daran, dass die Menschen nicht aufhörten „Frieden, Frieden, Frieden“ zu rufen. Sie glaubte als Kind, die Einigkeit der Menschen würde den bereits begonnenen Krieg aufhalten und die Geschichtsbücher neu schreiben. Tatjana hat noch immer dieselben Freunde wie auch vor dem Krieg und ist bis heute vom Guten der Menschen überzeugt.
Vor einigen Wochen schickte mir mein Bruder einen Link von „Spiegel Online“, bei dem es um das Friedenskonzert ging. Er rief mich daraufhin an und fragte: „Wir waren doch auf diesem Konzert, oder?“ „Ja, natürlich“, sagte ich. Unsere Mutter hatte uns Kinder damals dorthin mitgenommen. Als ich plötzlich diese alten Aufnahmen von dem Konzert sah, wurde mir warm ums Herz und ich fühlte mich glücklich. Gleichzeitig machte es mich traurig, dass ich so wenig Informationen über die damalige Friedensbewegung fand. Ich recherchierte viel darüber, kam jedoch immer wieder nur auf das ZETRA Project zurück. Ich frage mich, warum so wenig über diese vielen Menschen, die sich für den Frieden eingesetzt haben, berichtet wurde. Es ist, als habe man diese Bewegung vergessen wollen.

Meine Mutter arbeitete damals in einem bekannten Eisenwerk in Zenica. Eines Tages kam sie nach Hause und sagte zu uns: „Bereitet euch vor, morgen fahren wir nach Sarajevo und demonstrieren für den Frieden!“ Ihre Firma hatte Busse organisiert, die alle Mitarbeiter nach Sarajevo zu dem Konzert bringen sollten. Ich war damals 14 und fand die Idee spannend, so lange wach bleiben zu dürfen. Außerdem war es das erste Konzert auf dem ich jemals war.
Meine Mutter ist eine große Pazifistin. Und genauso wurden mein Bruder und ich auch zuhause erzogen. Wir sind Kinder einer sogenannten „Mischehe“. Ich mag es nicht, dieses Wort zu benutzen, aber möchte deutlich machen, dass wir nie auf irgendeine Seite gezogen wurden. Obwohl sich unsere Eltern getrennt haben als wir noch sehr jung waren. Wir sind bei unserer Mutter aufgewachsen und sie hat uns beigebracht, alles um uns herum zu lieben und zu respektieren: Mensch und Natur. Sie hat uns beigebracht Menschen lediglich als solche wahrzunehmen und nicht in nationalistischen Kategorien zu denken. Und sie hat uns gezeigt, wie man für das Richtige und Wichtige im Leben kämpft.

Als Pazifistin war es ihr sehr wichtig, dass wir an dieser Bewegung teilnehmen. Dass wir Kinder unsere Stimme gegen den Krieg erheben, war für sie auch von Bedeutung – besonders, weil der Krieg in Slowenien und Kroatien bereits begonnen hatte. Wir wussten, dass es bereits angefangen hatte zu brodeln. Aber wir waren davon überzeugt, dass wir den Krieg in unserer Einigkeit aufhalten und schnell beenden würden.
Wir Menschen würden nicht zulassen, dass der Krieg sich fortsetzt.
Zu diesem Zeitpunkt haben weder ich noch meine Mutter – die als Erwachsene ein viel ausgeprägteres Verständnis von der Situation hatte – die Geschehnisse als richtigen Krieg wahrgenommen. Krieg war doch etwas Schreckliches. Wir kannten Kriegsbilder aus Dokumentationen und Geschichtsbüchern. So etwas würde uns niemals widerfahren. Niemand, der die Atmosphäre auf diesem Konzert gespürt hat, hätte so etwas jemals für möglich gehalten. Überall wurden Transparente in die Luft gehoben, Parolen gerufen, nie wurden die Menschen müde ununterbrochen „Frieden, Frieden, Frieden“ zu schreien. Ich dachte, ich bin Teil einer Bewegung, die die Geschichtsbücher neu schreiben würde.
Da meine Mutter bei dem ganzen Regen keine Lust hatte noch mit uns Kindern durch Sarajevo zu laufen, waren wir sehr früh schon in der Zetra-Halle und konnten uns gute Plätze auf der Tribüne sichern. Wir waren vielleicht zehn Meter Luftlinie von der Bühne entfernt. Ich erinnere mich noch gut, wie wir zu Fuß und in unseren Regenmänteln zur Halle gelaufen sind – mit dieser Masse an Menschen. Wir waren bis zum Ende der Veranstaltung dort und fuhren dann mit dem Bus wieder zurück nach Zenica.

Im Bus wurde die ganze Zeit gesungen. Der Verkehr in Sarajevo war dermaßen überlastet, dass wir mehr als zwei Stunden brauchten, um überhaupt aus der Stadt herauszukommen. Bis nach Hause waren es nur 70 Kilometer – doch die Fahrt dauerte vier Stunden. Aber es war allen egal. Wir hätten ewig weiterfahren und singen können. Niemanden hatte es interessiert, dass wir im Stau standen.
Wenn ich mich an das Konzert und die anhaltende Euphorie erinnere, bekomme ich heute noch Gänsehaut. Als Kind fühlte sich all das so groß an, so bedeutsam. Ich fühlte mich damals, als würde ich etwas in der Welt verändern. Doch leider waren wir wie Schafe, die von falschen Hirten geführt wurden.
Anfang 1992 sagte meine Mutter an einem Tag plötzlich, sie müsse nach Šamac fahren, wo ihre Geschwister und Mutter lebten. Šamac liegt im Norden Bosniens, unweit der kroatischen Grenze. Sie sagte: „Ich muss sie noch einmal besuchen gehen, ich weiß nicht, wann und ob ich sie ein nächstes Mal sehen werde.“ Sie war drei oder vier Tage dort und kam dann zurück.
Danach sahen und hörten wir meine Verwandten jahrelang nicht – wir wussten nicht einmal, ob sie noch am Leben waren.
Wir verbrachten die gesamte Kriegszeit in Zenica. Jeden Tag dachten wir: „Jetzt hören sie auf. Morgen beendet jemand diesen Krieg. Übermorgen ist alles vorbei.“ Das dachten wir wirklich – jahrelang. Das Wichtigste in dieser Zeit war, nicht durchzudrehen. Während des Krieges haben wir versucht, positiv zu denken. Wenn wir hungrig waren, haben wir gesagt: Es wird die Zeit kommen, in der wir wieder essen werden. Es wird Wasser und Strom geben. Nur im Kopf müssen wir gesund bleiben.
Erst Anfang 1995 begann bei uns die Krise. Meine Mutter entschied, mit uns Kindern nach Deutschland zu gehen. Eine Tante von uns lebte bereits dort. Ich war damals 18 Jahre alt und habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, in Deutschland zu bleiben. Drei Jahre hielt ich es aus, ging dann jedoch alleine zurück nach Bosnien. Heute wohne ich in Vitez, mein Bruder lebt immer noch in Schwabing, während unsere Mutter nach England gegangen ist. Das Leben ist auch heute nicht einfach in Bosnien, aber ich bin glücklich hier. Ich glaube, ich bin die Glücklichste von uns dreien.
Einige Tage bevor mein Bruder mir den Link zu dem Konzert schickte, war ich bei Freunden in Zenica zu Besuch. Ich bin immer noch mit genau denselben Leuten befreundet, mit denen ich auch vor dem Krieg befreundet war und glaube immer noch, dass all das niemals hätte passieren dürfen. Wir saßen also alle zusammen und haben gemeinsam gesungen, wie wir es immer machen. Wir lieben die ganzen alten jugoslawischen Lieder. Wenn ich nur an „Hej Sloveni“ denke, habe ich sofort einen Kloß im Hals. Plötzlich stimmte jemand das Friedenslied des Konzerts „Yutel za mir“ an, und wir alle sangen mit. Wir kennen jedes einzelne Wort. Dann sagte ein Freund zu mir: „Weißt du eigentlich, dass ich immer noch traurig darüber bin, dass du zu dem Konzert gehen durftest, während meine Eltern es mir nicht erlaubten?“

Es mag naiv klingen, aber manchmal glaube ich bis heute nicht, dass Jugoslawien auseinandergefallen ist. Warum sollte jemand gewollt haben, dass das passiert? Wem geht es denn wirklich gut mit dieser Situation? Bis heute tut es mir im Herzen weh, dass ich einen Pass mitnehmen muss, wenn ich nach Kroatien ans Meer fahre. Wir verstehen uns doch alle immer noch. Ob ich nun zu Brot „Kruh“ sage oder „Hljeb“, jeder versteht doch, was ich meine. Ich glaube, es denken sehr viele Menschen so wie ich. Wenn ein solches Konzert erneut stattfinden würde, wäre auch dieses überfüllt. Doch leider sind die Nationalisten häufig lauter als diejenigen mit einem gesunden Verstand. Das finde ich schade. Ich finde sowieso, wir sollten uns mehr an die schönen Dinge von damals erinnern und mehr darüber sprechen. Und weniger über das ganze Kriegsgeschehen.
Kürzlich haben mein Bruder und ich unsere Mutter zu ihrem 60. Geburtstag in England überrascht. Auf ihrer Party waren Bosniaken, Kroaten, Serben, alle untereinander verheiratet, kennengelernt in Deutschland oder sonst irgendwo auf der Welt. Menschen aus dem ganzen ehemaligen Jugoslawien waren da. Einer hat sogar den Treueschwur von Titos Pionieren rezitiert und alle haben herzlich gemeinsam gelacht. Wir haben alte Lieder gesungen und gefeiert – komischerweise hat auch immer jemand eine Gitarre dabei.
Ich habe Angst davor, dass die Menschen in Europa sich nach Nationalitäten aufteilen und wir uns auseinander treiben lassen. Ich habe Angst davor, weil ich weiß, wie schlecht eine solche Aufteilung ist. Denn man sollte wissen: Sobald Bomben fallen, fragt keiner mehr auf wen diese fallen. Alle werden dann getroffen. Das ist metaphorisch gemeint, denn ich glaube nicht, dass es einen Krieg geben wird. Aber wir sollten trotzdem täglich für das Gute kämpfen im Leben. Ich war es schon immer und bin bis heute ein sehr positiver Mensch. Ich lege Hoffnung in unsere Kinder und unsere Zukunft. Nur dürfen wir nicht zulassen, dass ihr Geist vergiftet wird.