Tiana Kruškić

Wieder fliehen?

Tiana ist mit acht Jahren aus Doboj in Bosnien mit ihrer Familie nach Braunschweig geflüchtet. Heute ist sie Musikerin, ihre Band heißt Sister Soul & the Blaxperts. Nebenher arbeitet sie als Gesangsdozentin und dolmetscht für neu angekommene Flüchtlinge. 2013 stand sie im Halbfinale von „The Voice of Germany“.

Ich bin 1984 in Doboj, in Bosnien, geboren. Ich heiße Tiana. Meine Eltern gaben mir diesen Namen, weil er neutral war. Im Serbischen gibt es den Namen Tijana, Tihana wiederum ist kroatischen Ursprungs.

Sie entschieden sich für Tiana, ohne J und ohne H, ohne religiösen Schnickschnack, da sie ein "gemischtes" Pärchen und der Auffassung waren, mich nicht schon von Geburt an zu brandmarken. Denn an unseren Namen erkennt man den bosnischen, kroatischen oder serbischen Ursprung einer Familie. Dass das bei mir nicht funktioniert, finde ich heute, nach all dem, was in unserem Land geschehen ist, fast visionär.

Wir Kinder merkten sehr schnell, dass irgendetwas nicht stimmte, weil wir immer häufiger auf unsere Zimmer geschickt wurden, wenn die Nachrichten liefen.

1991 wurde ich in Doboj eingeschult. Mein Cousin Andrej, der nur einige Monate älter und wie ich Einzelkind war, lebte in Derventa, keine 30 Kilometer von uns entfernt. Wir wuchsen wie Zwillinge auf und waren unzertrennlich. Wir Kinder merkten sehr schnell, dass irgendetwas nicht stimmte, weil wir immer häufiger auf unsere Zimmer geschickt wurden, wenn die Nachrichten liefen.

Eines Tages im März 1992 kam Andrejs Mutter, die Schwester meiner Mutter, zu uns. Andrej sollte für eine Weile bei uns bleiben, bis sich die Lage in Derventa beruhigt hätte. Dort war zwar noch kein Krieg, aber die Lage war schon angespannt. Wir freuten uns riesig, denn das hieß für uns, dass wir ganz viel Zeit miteinander verbringen konnten. Sogar auf meine Schule sollte er gehen, in meine Klasse! Für uns war das der Himmel auf Erden.

Wir waren genau einen einzigen Tag gemeinsam in einer Klasse. Einen Tag später gab es eine Bombendrohung an unserer Schule, wir besuchten sie nie wieder. Am 1. April 1992 hieß es "Koffer packen. Wir fahren zu Oma und Opa nach Deutschland." Ich erinnere mich, wie ich alle meine Spielsachen einpacken und mitnehmen wollte. Meine Mutter versuchte zwar, uns so gelassen wie möglich zu erklären, dass wir nur für einige Zeit zu den Großeltern fahren, aber ich merkte, dass irgendetwas nicht stimmte.

Wir wohnten in einem Neubaugebiet, im 2. Stock rechts. Im ersten Stock links wohnte der jüngste Bruder meines Vaters mit seiner Frau und meinem damals sechs Monate alten Cousin Haris und meiner Oma väterlicherseits. Im dritten Stock links wohnte meine Cousine Maja mit ihren Eltern und ihrer knapp einjährigen Schwester Matea. Ganz oben wohnte Gabriela, meine beste Freundin. Ich werde ihre schwarzen Locken nie vergessen und wie wir uns schluchzend in den Armen lagen, als ich bei ihr klingelte, um mich zu verabschieden. Ihre große Schwester sagte noch "Es ist doch nur für eine kurze Zeit!" Ich bin auch heute noch der festen Überzeugung dass wir es besser wussten. Ich sah sie nie wieder.

Mein Vater saß völlig apathisch auf dem Sofa, starrte vor sich hin und rauchte, als wir fertig mit Packen waren

Auch werde ich nie vergessen, wie mein Vater völlig apathisch auf dem Sofa saß, vor sich hin starrte und rauchte, als wir fertig mit Packen waren. An den Abschied von ihm erinnere ich mich nicht. Es sollten fünf Monate vergehen, bis ich ihn wiedersah.

Meine ältere Cousine Sanja lebte mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder in Bosanski Brod, weshalb ich mich nicht von ihr verabschieden konnte. Als wir weg waren, zogen Sanja und ihre Familie zu uns in die Wohnung, weil Bosanski Brod schon brannte. Sie habe ich erst 2010 in Doboj wiedergesehen. Als ihr Bruder Vedran, inzwischen volljährig, ihre Mutter, sie und ich zusammen saßen und aus dem Weinen und Lachen nicht herauskamen, sagte sie, sie hätte etwas für mich. Sie verschwand in ein Zimmer und kam mit drei Kuscheltieren wieder. Es waren meine! Sie hatte sie fast zwei Jahrzehnte für mich aufbewahrt!

Diese drei Kuscheltiere sind die einzigen Dinge, die von unserer Wohnung übrig geblieben sind. Mein Vater nahm die Fotoalben und die Diplome meiner Eltern mit. Das wars. Als hätte es das Leben, das man davor geführt hatte, nie gegeben. Ich war acht und es gab nun eine neue Zeitrechnung: die vor dem Krieg und die nach dem Krieg.

Wir sind bei meinen Großeltern untergekommen, die schon seit den Sechzigerjahren in Deutschland lebten. Doch meine Eltern konnten nie in ihren alten Berufen arbeiten. In Bosnien war mein Vater Richter, meine Mutter Professorin für serbo-kroatische Sprache, aber beide arbeiteten hier zehn Jahre lang in einer Spielhalle. Später hatten wir dann einen Kiosk. Auch bis zum unbefristeten Aufenthalt und zur deutschen Staatsbürgerschaft hat es zehn Jahre gedauert. Meiner Mutter wurde vor ein paar Monaten ihr erstes Staatsexamen anerkannt, Mit 63 arbeitet sie nun aktuell Betreuerin in einer Grundschule. Mein Vater ist noch immer nicht anerkannt, er arbeitet als Berater im Treffpunkt Pregelstraße.

Wir schrieben nie Tagebücher über den Krieg, denn wir hatten die Musik. Meine Mutter schrieb Texte und mein Vater vertonte sie. Manchmal schrieb auch mein Vater Texte. Dann sangen er und ich die Lieder zweistimmig und nur mit einer Gitarre, unserer Familie und den Freunden vor, die es auch aus Bosnien rausgeschafft haben.

Da meine Großeltern ja schon länger in Deutschland lebten, hatte mein Opa die Möglichkeit, für die Neuankömmlinge zu bürgen, weshalb unsere Wohnung meistens voll mit Menschen war, die dort zeitweilig mit uns wohnten. Es waren Lieder voller Sehnsucht und Nostalgie, niemals aber kam das Wort "Krieg" darin vor. Wir besangen unsere Flüsse, Weiden, Bäume, Freundschaften, Straßen, Blumen, alles schöne und betrauerten dass wir selbige wohl nie wieder in ihrem Ursprung sehen würden. Und alle weinten. Nach und nach kannten auch alle anderen die Texte und Melodien und so sangen und weinten wir zusammen. Das war unsere Therapie. Wir sangen, als ob unser Leben davon abhinge. Ohne die Musik wären wir nicht zu retten gewesen.

"Ja nisam tu" war mein Ausstiegssong im Halbfinale bei Voice of Germany 2013

1993 fand mein Vater in der Zeitschrift "Oslobođenje" ein Gedicht eines damals zwölfjährigen Jungen. "Ja nisam tu" heißt es. Er vertonte dieses Lied. Der Name des Autors ging irgendwie verloren, aber das Lied wurde zur Hymne für uns und alle Geflüchteten, die in unser Haus kamen. Dieses Lied war dann auch mein Ausstiegssong im Halbfinale bei Voice of Germany 2013.Dank Nena, die es mir ermöglichte, diesen Song so vielen Menschen zu präsentieren, schrieb mir kurz danach ein Mann aus Slowenien. Er gratulierte mir zu meinem Erfolg, lobte die Melodiösität und sagte, dass er es sich nicht hätte träumen lassen, sein Gedicht in einer so schönen Form zu erleben. "Der unbekannte Verfasser des Gedichts Ja nisam tu", stand am Ende geschrieben. Ich hatte ihn gefunden! Er hatte mich gefunden! Ein Krieg, der so vieles kaputt gemacht und entzweit hatte, brachte uns wieder zu einander. Ich war überwältigt. Und bin es immer noch.

Er möchte anonym bleiben, ich bot ihm an, ihn namentlich zu nennen, diesen grandiosen Poeten der Welt vorzustellen, aber er lehnte ab. Mit zwölf brachte er sein erstes und einziges Gedichtband heraus. Dann floh er mit seiner Mutter nach Slowenien, wo er bis heute lebt. Sein Vater starb in Srebrenica. Seine Leiche wurde bis heute nicht identifiziert. Und seitdem fasste er den Stift nicht wieder an.

Ich bin nicht da

Ich bin nicht da
und mich gibt es nicht
in meiner Stadt
der Sonne und der Blüten

Und irgend welche fremden
Hände stehlen ihr
die Düfte des Sommers
und die Seide aus der Truhe

Ich bin nicht da
Aber meine Seele
schleicht des Nachts leise durch jede Gasse
Und steckt eine Lilie an jedes Revers
Und pflanzt einen Baum
neben jedes Haus

Ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, dass ich den Krieg und seine Folgen in mir habe wie einen Tinnitus. Ständig ist er präsent und wenn mal nicht, dann lauert es auf die nächstbeste Gelegenheit, seine hässliche Fratze wieder zu zeigen. Mit meinen Eltern telefoniere ich täglich und es vergeht kein Tag, an dem das Thema Krieg nicht angesprochen wird.

Obwohl meine Eltern jegliche Schikanen der deutschen Bürokratie erlebt haben, wollen sie nie wieder zurück.

Obwohl meine Eltern jegliche Schikanen der deutschen Bürokratie erlebt haben, wollen sie nie wieder zurück. Sie sind immer noch fassungslos und ohnmächtig darüber, dass ihr Land innerhalb von drei Tagen zerfiel, obwohl niemand die Aufteilung wollte. Obwohl erst alle riefen "wir sind Jugoslawen!". Und trotzdem alle die nationalistischen Parteien an der Macht gewählt haben.
Meine Eltern, obwohl beide Atheisten, "erlaubten" den Umgang mit den verschiedenen Religionen, war es doch eine Bereicherung, das alles zu erleben und respektieren zu lernen, obwohl man vielleicht selbst nicht an einen Gott glaubte. Man feierte und respektierte alle Feste, wir hatten ja alle drei Religionen in unserer Familie, aber wer hatte das damals nicht?

Ich habe meine Eltern stets belächelt, als sie mich überzeugen wollten, zu besser zu studieren. Ich wollte doch nur Musikerin sein. Schon mit vier wusste ich das ganz genau. Ihr stärkstes Argument war: "Falls hier in Deutschland mal ein Krieg ausbricht, dann ist dein deutsches Diplom überall auf der Welt anerkannt, nicht so wie bei uns! Inzwischen habe ich einen Magister Slawischer Philologie in der Tasche und bin trotzdem Musikerin geworden.

Aber so ist es sehr beruhigend für meine Eltern. Und das wird es zunehmender auch für mich. Wenn ich mir unsere momentane politische Situation in Deutschland und der Welt anschaue, diesen verbreiteten Hass auf das Fremde und Neue, überkommt mich eine Art Urangst. Nationalistische Fronten bekommen immer mehr Gehör. Die Stimmen werden lauter. Es scheint sich ein Nährboden aus Angst und Hass mit Nichtwissen zu paaren. Am Tisch neben dir im Café, in der Straßenbahn, am Kiosk, in deiner Bar. Auf ein Mal ist es en vouge kritisch zu sein - aber kritisch dem Fremden gegenüber.

Und dann reden alle davon, dass in Deutschland nie Krieg ausbrechen könne! Da bekomme ich ein Déjà-vu nach dem anderen

Und dann reden alle davon, dass hier ja nie Krieg ausbrechen könne, nicht in Deutschland! Da bekomme ich ein Déjà-vu nach dem anderen. Und dann fängst du an zu rattern und deine Geschichte jedem zu erzählen, der sie hören will - auch denen, die sie nicht hören wollen. Als Warnung. Als Hilferuf. Als Weckmittel. Zur Sensibilisierung... Wieder fliehen? Wieder von vorne anfangen? Ich möchte nicht so naiv sein, wie meine Eltern und ihre Generation, möchte nicht glauben, der Krieg käme nicht zu mir, obwohl er bereits in der Nachbarstadt wütet.

Ich bin nun acht Jahre jünger als meine Mutter damals, als sie mit mir fliehen musste. Ich habe mir hier ein Leben aufgebaut, ein Zuhause in Freunden gefunden, sie sind zur Familie geworden, wahrscheinlich, weil nichts mehr von der eigenen übrig ist. Ich träume auch heute noch, dass ich fliehen muss. In meinem jetzigen Leben. Mit 32. Und ich weiß mittlerweile, welche vier Dinge ich nur brauche: Pass, Laptop, Ladekabel, Diplom. Und jeden Menschen, den ich auf dem Weg treffe