Zenaida Karavdić
"Ich glaube nicht, dass wir den Krieg hätten aufhalten können"
Zenaida Karavdić war fast noch ein Kind, als der Krieg ausbrach. Wenn ihr heute Menschen unsympatisch sind, stellt sie sich vor, wie sie sich damals in Krisensituationen verhalten hätten. Hätten sie geteilt oder geholfen? Die meisten bestehen diese Tests, sagt sie.
Obwohl ich erst zwölf Jahre alt war, erinnere ich mich noch sehr gut an das Konzert. Meine Eltern waren keine großen Konzertbesucher, niemals hätten sie mich allein auf ein Konzert gehen lassen. Es waren gerade Sommerferien. Wir waren zuhause. Ich hatte nichts Besseres zu tun, als den ganzen Tag vor dem Fernseher zu verbringen. Ich war ziemlich aufgeregt - ich merkte, dass Jugoslawien dabei war, zerstört zu werden. Ich war von ganzem Herzen bei den Menschen, die „Ju-go-slawien, Ju-go-slawien“ skandierten. Ich hatte damals ein Tagebuch, in das ich das „Peace“-Zeichen zeichnete. Über den Krieg habe ich damals gar nicht nachgedacht. Obwohl alles vor unserer Nase passierte, konnten wir daran nicht glauben.
Den Krieg habe ich dann in Visoko verbracht. Wir haben gar nicht erst versucht zu fliehen. Dabei hätte ich Bosnien-Herzegowina während des Krieges sogar gleich zwei Mal verlassen können. Über eine Cousine in Zagreb hätte ich sogar in die USA fliehen können, meine Eltern waren davon allerdings wenig begeistert. Trotzdem hätten sie mich nicht davon abgehalten, sie haben mich alleine entscheiden lassen.
Ich habe gelernt, dass auch schlechte Menschen in Krisensituationen das Beste aus sich herausholen
Ich blieb, was mir im Nachhinein nicht leid tut. Denn, so seltsam das klingt, der Krieg bietet einem so viele Erfahrungsmöglichkeiten, die man eben nur im Krieg bekommt. Zum Beispiel habe ich gelernt, dass auch „schlechte“ Menschen in Krisensituationen das Beste aus sich herausholen. Immer wenn ich jemanden kennen lerne und er mir vom Charakter her nicht sympathisch ist, stelle ich mir diese Person als einen Nachbarn im Krieg vor, der ein Kilo Zucker bekommt, und frage mich, was er damit wohl machen wird. Oder ich stelle mir die Person als jemanden vor, vor dessen Haus ein Kind von einem Scharfschützen oder durch Granatsplitter verwundet wurde. Wenn er diese „Tests“ in meinem Kopf besteht, und die meisten bestehen diesen Test tatsächlich, dann kann ich auch alles andere ertragen.
Vor dem Krieg war ich nicht allzu viel in Sarajevo. Doch das Leben in Visoko war aufgrund der Nähe zu Sarajevo sehr ähnlich. Heute fehlt mir die Entspanntheit der Bewohner - mir scheint, als ob sie vor dem Krieg mehr gelebt und sich weniger Sorgen gemacht haben. Sie haben das Leben genossen, obwohl sie vor dem Krieg viel weniger hatten. Außerdem waren sie zufrieden mit dem, was sie hatten - egal wie viel das war, sie haben es auf die bestmögliche Art und Weise genutzt. Sie haben mehr Zeit miteinander verbracht, und es gab eine klare Hierarchie der Bewohner: Das waren keine Kategorien, die sich am materiellen Status orientierten. Ein Dummkopf konnte so viel Geld haben, wie er wollte; wenn er ein Dummkopf war, dann haben die Leute ihn auch als Dummkopf betrachtet. Die Menschen wurden aufgrund ihres Verhaltens, Charakters, ihrer Intelligenz und Manieren beurteilt und nicht aufgrund ihrer Funktionen, Positionen und ihres Besitzes. Das fehlt mir am meisten.
Ich wäre gerne Serbin oder Kroatin, damit ich auch ihre Perspektive nachvollziehen könnte
Außerdem hatten die Menschen damals mehr Stolz, gerade in Sarajevo. Heute schauen alle neidisch auf Ausländer, die Geld haben. Früher war das anders - wir waren höflich zu Ausländern oder zu Bewohnern anderer Städte, doch sie brauchten sehr lange, ehe sie als „Einheimische“ empfunden wurden.
Ich glaube nicht, dass wir den Krieg hätten aufhalten können, der Plan dahinter war zu perfekt, ohne großes Nachdenken haben wir ihn befolgt. Ich wäre gerne Serbin oder Kroatin, damit ich auch ihre Perspektive nachvollziehen könnte.